Page - 234 - in Der Weg ins Freie
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»Ich hoffe.«
»Wie müd mußt du sein«, sagte er, indem er ihre Hand streichelte.
»Nein, es ist etwas anderes. Ich bin so wach… ich kann dir gar nicht sagen,
wie wach ich bin. Mir ist, als wär ich in meinem ganzen Leben nicht so wach
gewesen. Und weiß zugleich, daß ich so tief schlafen werde, wie noch nie…
wenn ich nur erst die Augen geschlossen habe.«
»Ja gewiß wirst du das. Aber nun darf ich doch wohl noch eine Weile bei
dir bleiben? Am liebsten möcht ich so lange hier sitzen, bis du eingeschlafen
bist.«
»Nein, Georg, wenn du da bist, kann ich ja doch nicht einschlafen. Aber
bleib nur noch ein bißchen. Das ist schon gut.«
Er hielt immer ihre Hand und blickte zum Garten hinaus, der nun ganz im
Abendschatten lag.
»Du warst nicht sehr viel im Auhof oben dieses Jahr?« fragte Anna
gleichgültig, als gälte es nur irgend etwas zu reden.
»O ja, täglich beinahe. Hab ich dir’s denn nicht gesagt? – Ich denke, Else
wird James Wyner heiraten und mit ihm nach England gehen.«
Er wußte, daß sie nicht an Else dachte, sondern an eine ganz andere. Und er
fragte sich: meint sie etwa, – das sei schuld?
Ein lauer Hauch kam von draußen geweht. Kinderstimmen klangen herein.
Georg blickte hinaus. Er sah die weiße Bank unter dem Birnbaum schimmern
und dachte daran, wie Anna ihn dort oben erwartet hatte, im wallenden Kleid,
die fruchtschweren Äste über sich, umflossen vom sanften Wunder ihrer
Mütterlichkeit. Und er fragte sich: war es schon damals bestimmt, daß es so
enden müßte? Oder war es am Ende schon in dem Augenblick bestimmt, da
wir einander zum erstenmal umarmt haben? Die Bemerkung des Professors
fuhr ihm durch den Sinn, daß ein bis zwei Prozent aller Geburten so enden.
Also seit Menschen geboren wurden, war es so, daß unter hundert einer oder
zwei in so sinnloser Weise dahin müssen im selben Augenblick, da sie zum
Licht emporgebracht werden! Und so und so viele müssen im ersten Jahre
sterben, und so viel in der Blüte ihrer Jugend, und so viel als Männer, und
wieder eine bestimmte Anzahl macht ihrem Leben selbst ein Ende, wie
Labinski, und bei so und so vielen muß es mißlingen, wie bei Oskar
Ehrenberg. Wozu nach Gründen suchen? Irgendein Gesetz ist wirksam,
unbegreiflich und unerbittlich, an dem wir Menschen nicht rütteln können.
Wer darf klagen, warum gerade mir das? Widerfährt es nicht ihm, so
widerfährt es eben einem andern… unschuldig oder schuldig wie er. Ein bis
zwei Prozent trifft es eben, das ist die himmlische Gerechtigkeit. Die Kinder,
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik