Page - 235 - in Der Weg ins Freie
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die da drüben im Garten lachten, die durften leben. Durften? Nein,
sie mußten leben, so wie das seine hatte sterben müssen nach dem ersten
Atemzug, bestimmt von einer Dunkelheit durch ein sinnloses Nichts hindurch
einzugehen in eine andere.
Draußen war die Dämmerung, und im Zimmer war es beinahe schon Nacht.
Anna lag still und regungslos. Ihre Hand in der Georgs rührte sich nicht. Aber
als Georg sich erhob, sah er, daß ihre Augen offen waren. Er beugte sich
nieder, zögerte einen Augenblick, dann legte er den Arm um ihren Hals und
küßte sie auf die Lippen, die heiß und trocken waren und seine Berührung
nicht erwiderten. Dann ging er. Im Nebenzimmer brannte die Hängelampe
über dem Tisch, auf dem früher das tote Kind gelegen hatte. Nun war die
grüne Tischdecke ausgebreitet, als wäre nichts geschehen. Die Türe zu dem
Zimmer, in dem Frau Golowski wohnte, war geöffnet. Das Licht einer Kerze
schimmerte herein, und Georg wußte, daß da sein Kind den ersten und letzten
Schlummer schlief.
Frau Golowski und Frau Rosner saßen nebeneinander auf dem Sofa an der
Wand, stumm, wie zusammengekauert. Georg trat zu ihnen. »Der Herr
Gemahl ist schon fort?« wandte er sich an Frau Rosner.
»Ja, er ist mit den Herren Doktoren in die Stadt hineingefahren«, erwiderte
sie und sah ihn wie fragend an.
»Sie ist ruhig«, beantwortete Georg ihren Blick. »Ich denke, sie wird fest
schlafen.«
»Wollen Sie nicht etwas zu sich nehmen?« fragte Frau Golowski. »Seit ein
Uhr haben Sie… «
»Danke nein. Ich fahre jetzt in die Stadt. Ich möchte meinen Bruder
sprechen. Auch erwarte ich Briefe von Wichtigkeit. Morgen früh bin ich
wieder da.« Er verabschiedete sich, ging in seine Mansarde, holte die
Tristanpartitur vom Balkon ins Zimmer herein, nahm Überzieher und Stock,
zündete sich eine Zigarette an und verließ das Haus. Er fühlte sich freier,
sobald er auf der Straße war. Eine ungeheure Aufregung lag hinter ihm. Es
war in unglücklicher Weise vorüber, aber vorüber war es doch. Und mit Anna
mußte es ja gut ablaufen. Freilich da gab es wohl auch den verhängnisvollen
Prozentsatz. Aber es war klar, daß nun die Möglichkeit eines schlimmen
Ausgangs, gerade nach dem Gesetz der Wahrscheinlichkeitsrechnung viel
geringer sein mußte, als wenn das Kind am Leben geblieben wäre.
Mit raschen Schritten durchmaß er die langgestreckte Ortschaft, wollte
nichts denken und betrachtete mit absichtlicher Aufmerksamkeit jedes
einzelne Haus, an dem er vorbeikam. Sie waren alle niedrig, die meisten recht
trübselig und arm. Hinter ihnen, im Abenddunst, stiegen kleine Gärtchen an
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik