Page - 237 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 237 -
Text of the Page - 237 -
das gleiche Geräusch der Stadt, der gleiche Duft des Parks zu ihm
hereingeströmt war wie heute. Das Jahr, das seither verflossen war, dehnte
sich in seinem müden Sinn zu Ewigkeiten, wurde dann wieder zu einer kurzen
Spanne Zeit, und in seiner Seele raunte irgend etwas: wozu… wozu. Sein
Kind war tot. Draußen am Sommerhaidenweg auf dem Friedhof wird es
begraben sein, dort wird es ausruhen in geweihter Erde von dem mühevollen
Weg, der ihm zu gehen bestimmt war, von einer Dunkelheit durch ein
sinnloses Nichts in die andere. Unter einem kleinen Kreuze wird es liegen, als
hätte es ein Menschenlos durchlebt und durchlitten… Als hätte es gelebt? Es
hatte ja wirklich gelebt, von dem Augenblick an, da sein Herz im Leib der
Mutter zu klopfen angefangen. Nein, früher schon… von dem Augenblick an,
da seiner Mutter Leib es empfangen, hatte es dem Reich des Lebendigen
zugehört. Und Georg dachte daran, wievielen Menschenkindern es bestimmt
war, noch viel früher wieder dahinzugehen als dem seinen, wie viele,
gewünschte und ungewünschte, in den ersten Tagen ihres Lebens sterben,
ohne daß die eigenen Mütter es nur ahnen. Und während er so vor seinem
Schreibtisch mit geschlossenen Augen hindämmerte, zwischen Schlafen und
Wachen, sah er lauter schimmernde Kreuze ragen auf winzigen Hügeln, als
wär es ein Friedhof aus einer Spielereischachtel, und eine rötlich-gelbe
Puppensonne glänzte darüber hin. Mit einmal aber bedeutete dies Bild den
Friedhof von Cadenabbia. Georg saß wie ein kleiner Knabe auf der steinernen
Umfassungsmauer und wandte plötzlich den Blick zur See hinab. Da trieb in
einem sehr langen, schmalen Kahn unter schwefelgelben Segeln, mit einem
grünen Schal um die Schultern, bewegungslos auf der Ruderbank sitzend,
eine Frau, deren Antlitz zu erkennen er sich vergeblich und beinahe
schmerzlich bemühte.
Die Klingel tönte. Georg fuhr auf. Was war das? Ach ja, es war niemand da,
um aufzuschließen. Der Diener war seit erstem entlassen, und die
Portiersfrau, die jetzt die Brüder bediente, war um diese Zeit nicht in der
Wohnung. Georg ging ins Vorzimmer und öffnete. Heinrich Bermann stand
auf dem Flur. »Ich sah von unten Licht in Ihrem Zimmer«, sagte er. »Es war
ein guter Einfall von mir, zuerst an Ihrem Haus vorüber zu gehen. Eigentlich
wollte ich zu Ihnen aufs Land hinausfahren.«
Spricht er wirklich so erregt, dachte Georg, oder klingt es mir nur so? Er
bat ihn einzutreten und Platz zu nehmen.
»Danke, danke, ich gehe lieber auf und ab. Nein, schalten Sie die obere
Flamme nicht ein, die Schreibtischlampe genügt. – Im übrigen – wie geht es
bei Ihnen draußen?«
»Heute Nachmittag ist das Kind zur Welt gekommen«, erwiderte Georg
ruhig. »Aber leider war es tot.«
237
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik