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totschießen können. Was sagen Sie übrigens zu diesem Gerede von
Weltanschauung? Wie wenn Weltanschauung etwas anderes wäre, als der
Wille und die Fähigkeit die Welt wirklich zu sehn, das heißt, anzuschauen,
ohne durch eine vorgefaßte Meinung verwirrt zu sein, ohne den Drang, aus
einer Erfahrung gleich ein neues Gesetz abzuleiten, oder sie in ein
bestehendes einzufügen. Aber den Leuten ist Weltanschauung nichts, als eine
höhere Art von Gesinnungstüchtigkeit – Gesinnungstüchtigkeit innerhalb des
Unendlichen sozusagen. Oder sie sprechen von düsterer und heiterer
Weltanschauung, je nach der Färbung, in der ihnen die Welt kraft ihres
Temperaments und zufälliger persönlicher Erlebnisse erscheint. Menschen
mit offenen Sinnen haben Weltanschauung und beschränkte nicht. So steht die
Sache. Man muß wahrhaftig kein Philosoph sein, um Weltanschauung zu
haben… vielleicht darf man’s nicht einmal sein. Jedenfalls hat Philosophie
mit Weltanschauung nicht das geringste zu tun. Von den Philosophen hat
gewiß jeder bei sich gewußt, daß er nichts anderes vorstellt, als eine Art von
Dichter. Kant hat an das Ding an sich geglaubt und Schopenhauer an die Welt
als Wille und Vorstellung, wie Shakespeare an Hamlet und Beethoven an die
Neunte. Sie haben gewußt, daß nun ein Kunstwerk mehr auf der Welt ist, aber
sie haben sich gewiß nicht eingebildet, daß sie eine endgültige »Wahrheit«
entdeckt hätten. Jedes philosophische System, wenn es Rhythmus und Tiefe
hat, bedeutet einen Besitz mehr auf Erden. Aber was soll es denn an dem
Verhältnis eines Menschen zur Welt ändern, der selbst mit offenen Sinnen
begnadet ist?« Er sprach weiter, immer erregter, geriet, wie es Georg erschien,
ins Fieberhaftverworrene. Georg erinnerte sich daran, daß Heinrich einmal ein
Ringelspiel erfunden hatte, das sich über den Erdboden höher und immer
höher in Spiralen drehen sollte, um endlich in einer Turmspitze zu enden.
Sie nahmen den Weg durch wenig belebte und mäßig beleuchtete
Vorstadtstraßen. Georg war es, als spazierte er in einer fremden Stadt umher.
Plötzlich erschien ein Haus ihm sonderbar bekannt, und er merkte jetzt erst,
daß sie an dem Haus der Familie Rosner vorbeigingen. Das Speisezimmer
war erleuchtet. Wahrscheinlich saß dort oben der Alte allein, oder in
Gesellschaft seines Sohnes. Ist es denn möglich, dachte Georg, daß in
wenigen Wochen auch Anna wieder dort sitzen wird, am selben Tisch mit
Vater, Mutter und Bruder, als wäre nichts geschehen? Daß sie wieder hinter
jenem Fenster mit den jetzt geschlossenen Jalousien Nacht für Nacht schlafen,
Tag für Tag aus diesem Hause sich zu ihren armseligen Lektionen begeben –
daß sie dieses ganze, klägliche Leben wieder aufnehmen wird, als hätte
nichts, gar nichts sich verändert? Nein! Sie durfte nicht mehr zu den Ihren
zurückkehren, das wäre ja unsinnig gewesen. Zu ihm mußte sie kommen, mit
ihm zusammen leben, zu dem sie gehörte. Das Telegramm aus Detmold!
Beinahe hätte er dran vergessen. Er mußte mit ihr darüber reden. Hier war
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik