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Hoffnung und Aussicht! In solch einer kleinen Stadt war das Leben wohlfeil.
Auch war Georgs eigenes Vermögen noch lange nicht aufgezehrt. Man konnte
es schon wagen. Überdies bedeutete die Stellung dort nur den Anfang.
Vielleicht bald kam eine bessere, in einer andern, größern Stadt; über Nacht,
unverhofft, wie solche Dinge immer kommen, war ein Erfolg da, man hatte
einen Namen, nicht nur als Dirigent, sondern auch als Komponist, und es
brauchten kaum zwei, drei Jahre zu vergehen, so konnten sie das Kind zu sich
nehmen… Das Kind!… Wie die Gedanken ihm durch den Kopf stürmten…
Auch das konnte man auf einen Augenblick vergessen?
Heinrich sprach noch immer; es war ganz offenbar, daß er sich übertäuben
wollte. Er fuhr fort, die Philosophen zu vernichten. Eben war er daran, sie von
Dichtern zu Spielenden zu degradieren. Jedes System – jedes philosophische
und jedes moralische sei Wortspielerei. Eine Flucht aus der bewegten Fülle
der Erscheinungen in die Marionettenstarre der Kategorien. Aber das war es
eben, wonach es die Menschen verlangte. Daher alle Philosophie, alle
Religion, alle Sittengesetze! Auf dieser Flucht waren sie immerfort begriffen.
Wenigen, gar wenigen war die ungeheure, innere Bereitschaft gegeben, jede
Erfahrung als neu und einzig zu empfinden – die Kraft es zu ertragen, daß sie
in jedem Augenblick gleichsam in einer neuen Welt stünden. Und doch: nur
dem, der den feigen Drang überwinde, alle Erlebnisse in Worte einzuengen,
dem zeige das Leben – das vielfältig-eine, das wunderbare, sich in seiner
wahren Gestalt.
Georg hatte die Empfindung, als strebte Heinrich mit all seinen Reden nur
dies an: vor sich selbst jede Verantwortung gegenüber einem höhern Gesetz
abzuschütteln, indem er keines anerkannte. Und wie in einem wachsenden
Widerstand gegen Heinrichs faselhaft wunderliches Gebaren fühlte er, wie
sich in seiner eigenen Seele das Bild der Welt, das ihm vor Stunden erst wie
in Stücke zu zerfallen gedroht hatte, allmählich wieder zusammenzuschließen
begann. Eben noch hatte er sich gegen die Sinnlosigkeit des Schicksals
aufgelehnt, das ihn heute betroffen, und schon begann er dumpf zu ahnen, daß
auch das, was ihm ein trauriger Zufall geschienen, nicht aus dem Leeren auf
sein Haupt heruntergestürzt war, sondern daß es ebenso auf einem
vorbestimmten, nur dunklern Weg zu ihm herangezogen war, wie das, was auf
weithin sichtbarer Straße sich ihm nahte und das er gewohnt war,
Notwendigkeit zu nennen.
Sie waren vor dem Hause, in dem Heinrich wohnte. Der Hausmeister stand
am Tor und teilte mit, daß er vor kurzem eine Depesche in Heinrichs Zimmer
gelegt hätte.
»So?« sagte Heinrich wie gleichgültig und ging langsam die Treppen
hinauf. Georg folgte. Im Vorzimmer zündete Heinrich eine Kerze an. Auf
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik