Page - 243 - in Der Weg ins Freie
Image of the Page - 243 -
Text of the Page - 243 -
einem kleinen Tischchen lag die Depesche. Heinrich öffnete sie, hielt sie nah
zum flackernden Licht hin, las für sich und wandte sich dann zu Georg. »Sie
wurde heute morgens auf der Probe erwartet und ist nicht erschienen.« Er
nahm den Leuchter in die Hand und trat, von Georg gefolgt, in den nächsten
Raum, stellte das Licht auf den Schreibtisch und ging im Zimmer auf und ab.
Georg hörte durchs offene Fenster über den dunkeln Hof Klaviergeklimper.
»Sonst enthält die Depesche nichts?« fragte er.
»Nein. Aber offenbar ist sie nicht nur nicht auf der Probe gewesen, sondern
war auch in ihrer Wohnung nicht zu finden. Sonst hätte man wohl
telegraphiert, daß sie krank sei, oder sonst ein Wort der Erklärung. Ja, lieber
Georg« – er atmete tief auf – »diesmal ist es geschehen.«
»Warum? Dafür ist doch kein Beweis vorhanden, kaum ein Anhaltspunkt.«
Heinrich schnitt mit einer seiner kurzen Handbewegungen die Rede des
andern ab. Dann sah er auf die Uhr und sagte: »Heut hab ich keinen Zug
mehr… Ja… was soll man nur – was soll man nur beginnen?« Er hielt inne,
blieb stehen und sagte plötzlich: »Ich werde zu ihrer Mutter fahren. Ja. Das ist
das beste… Vielleicht, vielleicht… «
Sie verließen die Wohnung. An der nächsten Ecke nahmen sie einen
Wagen.
»Hat die Mutter etwas gewußt?« fragte Georg.
»Ach Gott«, sagte Heinrich. »Was Mütter eben zu wissen pflegen. Es ist ja
unglaublich, wie wenig die Menschen über das nachdenken, was in ihrer
nächsten Nähe vorgeht, wenn sie nicht durch einen äußern Anlaß dazu
genötigt werden. Und die meisten Menschen ahnen nicht einmal, was sie alles
wissen, in der Tiefe ihrer Seele wissen, ohne sich’s einzugestehen. Die gute
Frau wird wohl etwas erstaunt sein, wenn ich so plötzlich vor ihr auftauche…
ich habe sie schon lange nicht gesehen.«
»Was werden Sie ihr sagen?«
»Ja, was werde ich ihr sagen?« wiederholte Heinrich und biß an seiner
Zigarre herum. »Hören Sie, ich habe eine großartige Idee. Sie werden mit mir
kommen, Georg, ich stelle Sie als Direktor vor, ja? Sie sind auf der
Durchreise hier, müssen noch heute mit einem Separatzug um elf Uhr fort,
nach Petersburg, haben irgendwie gehört, daß sich das Fräulein in Wien
aufhält, und ich, als alter Bekannter des Hauses bin so liebenswürdig Sie
vorzustellen.«
»Sind Sie zu dergleichen Komödien aufgelegt?« fragte Georg.
»Ach verzeihen Sie, Georg! Es ist ja alles gar nicht notwendig. Ich frage
243
back to the
book Der Weg ins Freie"
Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik