Page - 245 - in Der Weg ins Freie
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»Jetzt seien Sie einmal aufrichtig«, sagte Georg. »Wenn Sie sie auf diese
Weise retten könnten, würden Sie ihr auch jetzt nicht verzeihen?«
»Ja Georg, merken Sie denn noch immer nicht, daß es sich gar nicht darum
handelt, ob ich verzeihen will oder nicht? Denken Sie doch, ich hätte einfach
aufgehört sie zu lieben, was doch gelegentlich passieren kann, auch ohne daß
man ›verraten‹ worden ist. Denken Sie, eine Frau, die Sie liebt, würde Sie
verfolgen, eine Frau, vor deren Berührung Ihnen aus irgendeinem Grunde
graut, würde Ihnen schwören, sie bringt sich um, wenn Sie sie verschmähen.
Wären Sie verpflichtet ihr nachzugehen? Könnten Sie sich den leisesten
Vorwurf machen, wenn sie wirklich aus sogenannter verschmähter Liebe in
den Tod ginge? Würden Sie sich als ihr Mörder fühlen? Das ist doch lauter
Unsinn, nicht wahr? Also wenn Sie glauben, daß es das sogenannte Gewissen
ist, das mich jetzt peinigt, so irren Sie sich. Es ist einfach die Sorge um das
Schicksal eines Wesens, das mir einmal nahestand und gewissermaßen heute
noch nahesteht. Die Ungewißheit… « Plötzlich blickte er starr nach einer
Richtung.
»Was ist Ihnen?« fragte Georg.
»Sehen Sie nicht? Ein Telegraphenbote. Er kommt auf das Haustor zu.«
Ehe der Mann noch klingeln konnte, war Heinrich bei ihm, und sagte ihm ein
paar Worte, die Georg nicht verstehen konnte. Der Bote schien Einwendungen
zu machen, Heinrich erwiderte, und Georg, der nähergetreten war, konnte es
hören. »Ich habe Sie ja hier vor dem Tor erwartet, weil mich der Arzt
dringend darum gebeten hat. Dieses Telegramm enthält… vielleicht… eine
traurige Nachricht… und es könnte für meine Mutter der Tod sein… nun
wenn Sie mir nicht glauben, so klingeln Sie doch, ich geh mit Ihnen ins
Haus.« Aber schon hatte er auch die Depesche in Händen, öffnete sie hastig
und las beim Licht einer Straßenlaterne. Sein Antlitz blieb völlig
unbeweglich. Dann faltete er die Depesche wieder zusammen, reichte sie dem
Boten hin, drückte ihm ein paar Silbermünzen in die Hand und sagte: »Sie
müssen sie doch selbst drin abgeben.«
Der Bote war befremdet, aber durch das Trinkgeld milde gestimmt.
Heinrich klingelte und wandte sich ab. »Kommen Sie«, sagte er zu Georg. Sie
gingen stumm die Straße weiter. Nach ein paar Minuten sagte Heinrich: »Es
ist geschehen.«
Georg erschrak heftiger, als er erwartet hätte. »Ist es möglich… « rief er
aus.
»Ja«, sagte Heinrich. »Im See hat sie sich ertränkt. In dem See, an dem Sie
heuer im Sommer ein paar Tage gewohnt haben«, setzte er hinzu, in einem
Ton, als trüge Georg nun auch irgendwie einen Teil der Verantwortung für
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik