Page - 250 - in Der Weg ins Freie
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Felician sah seinem Bruder ins Auge, sehr ernst, dann drückte er ihm die
Hand. »Aufs nächstemal«, sagte er mit einem guten Lächeln. Noch einmal
drückte er dem Bruder die Hand und ging. Georg sah ihm nach, zwiespältig
bewegt. Ganz unangenehm ist es ihm ja doch nicht, dachte er, daß es so
gekommen ist. – Rasch machte er sich fertig und beschloß, heute wieder
einmal zu Rad aufs Land zu fahren.
Erst als er über die belebteren Straßen hinaus war, kam er zum Gefühl
seiner selbst. Der Himmel hatte sich ein wenig getrübt, und von den Hügeln
her wehte Georg ein kühler Wind wie Herbstgruß entgegen. Er wollte in der
kleinen Ortschaft, wo das gestrige Ereignis jedenfalls schon bekannt
geworden war, niemandem begegnen und nahm den obern Weg zwischen
Wiesen und Gärten zum rückwärtigen Eingang. Je näher der Augenblick kam,
da er Anna wiedersehen sollte, um so schwerer wurde ihm ums Herz. Am
Gitter saß er vom Rad ab und zögerte ein wenig. Der Garten war leer; unten
lag das Haus, in Stille versunken. Georg atmetet tief und schmerzlich auf. Wie
anders hätte es sein können! dachte er, schritt hinab und hörte den Kies unter
seinen Füßen knirschen. Er trat auf die Veranda, lehnte das Rad ans Geländer
und schaute durch das offene Fenster ins Zimmer hinein. Anna lag mit
offenen Augen.
»Guten Morgen«, rief er möglichst heiter.
Frau Golowski, die an Annas Bett gesessen war, erhob sich und erzählte
gleich: »Gut haben wir geschlafen, fest und gut.«
»Na, das ist schön«, sagte Georg und schwang sich über die Brüstung ins
Zimmer.
»Du bist ja sehr unternehmend heute«, sagte Anna mit ihrem verschmitzten
Lächeln, das Georg an längst vergangene Zeiten erinnerte. Frau Golowski
teilte mit, der Professor wäre am frühen Morgen dagewesen, hätte sich
vollkommen zufrieden gezeigt, und Frau Rosner in seinem Wagen mit in die
Stadt genommen. Dann entfernte sie sich, mit guten Blicken.
Georg beugte sich zu Anna nieder, küßte sie innig auf Augen und auf
Mund, rückte den Stuhl näher, setzte sich und sagte: »Mein Bruder – grüßt
dich herzlich.«
Es zuckte unmerklich um ihre Lippen. »Danke«, erwiderte sie leise und
bemerkte dann: »Du bist ja mit dem Rad herausgekommen?«
»Ja«, erwiderte er. »Da muß man nämlich auf den Weg aufpassen, was
zuweilen sein Gutes hat.« Dann berichtete er vom Abschluß des gestrigen
Abends, erzählte das Ganze wie eine spannende Geschichte, und erst zum
Schluß, wie es sich gehörte, durfte Anna erfahren, wie Heinrichs Geliebte
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik