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»Es ist möglich, daß es gar nicht zu dem Prozeß kommt. Golowskis
Advokat hat ein Abolitionsgesuch eingebracht.«
Berthold lachte auf. »Deswegen! Und du glaubst, daß das nur die geringste
Aussicht auf günstige Erledigung haben könnte, Vater? Ja, wenn Leo gefallen
und der Oberleutnant am Leben geblieben wär… dann vielleicht.«
Der Alte schüttelte ungeduldig den Kopf. »Du mußt um jeden Preis
oppositionelle Reden halten, mein Sohn.«
»Verzeih, Vater«, sagte Berthold mit zuckenden Brauen, »es hat nicht jeder
die beneidenswerte Gabe, von gewissen Erscheinungen im öffentlichen
Leben, wenn sie ihn persönlich nicht angehen, einfach den Blick
abzuwenden.«
»Ist das vielleicht meine Gewohnheit?« entgegnete der Alte heftig, und
unter der hohen Stirn taten die halbgeschlossenen Augen sich fast erbittert
auf. »Du, Berthold, viel eher als ich bist es, der den Blick verschließt, wo er
nicht sehen will. Ich finde, du fängst an, dich in deine Ideen zu verbohren. Es
wird krankhaft bei dir. Ich habe gehofft, der Aufenthalt in einer andern Stadt,
in einem andern Land wird dich von gewissen beschränkten und kleinlichen
Auffassungen kurieren. Aber es ist eher ärger geworden. Ich merk es ja. Daß
einer losschlägt, wie es Leo Golowski getan, das kann ich noch verstehen, so
wenig ich es billigen möchte. Aber immer dastehen, die geballte Faust in der
Tasche, sozusagen, was hat das für einen Zweck? Besinn dich doch auf dich!
Persönlichkeit und Leistung setzen sich am Ende immer durch. Was kann dir
Arges passieren? Daß du um ein paar Jahre später die Professur kriegst als ein
anderer. Das Unglück fänd ich nicht so groß. Deine Arbeiten wird man doch
nicht totschweigen können, wenn sie was wert sind… «
»Es kommt ja nicht allein auf mich an!« warf Berthold ein.
»Aber es handelt sich meist um derartige Interessen zweiten Ranges. Und
um wieder auf unser früheres Thema zu kommen, ob sich auch für den
Oberleutnant, wenn er den Leo Golowski niedergeschossen, ein Ehrenberg
oder Ehrenmann mit hunderttausend Gulden gefunden hätte, das ist sehr die
Frage. So, und jetzt steht es dir frei, auch mich für einen Antisemiten zu
halten, wenn’s dir Spaß macht, obwohl ich jetzt direkt in die Rembrandtstraße
zur alten Golowski fahre. Also grüß dich Gott, und werd endlich vernünftig.«
Er reichte seinem Sohn die Hand. Der nahm sie, ohne eine Miene zu
verziehen. Der Alte wandte sich zum Gehen. An der Tür sagte er: »Wir sehen
uns wohl abends in der Gesellschaft der Ärzte?«
Berthold schüttelte den Kopf. »Nein Vater. Ich verbringe den heutigen
Abend in einem minder gebildeten Lokal, in der silbernen Weintraube, wo
eine Versammlung des sozialpolitischen Vereins stattfindet.«
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik