Page - 258 - in Der Weg ins Freie
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besonders zu leisten, dazu gehört, außer diesen vortrefflichen Eigenschaften
doch noch eine, von der du meiner Ansicht nach sehr wenig besitzest: Güte,
lieber Berthold, Liebe zu den Menschen.«
Berthold schüttelte heftig den Kopf »Die Menschenliebe, die du meinst,
Vater, halt ich für ganz überflüssig, eher für schädlich. Das Mitleid – und was
kann Liebe zu Leuten, die man nicht persönlich kennt, am Ende anderes sein
– führt notwendig zu Sentimentalität, zu Schwäche. Und gerade, wenn man
ganzen Menschengruppen helfen will, muß man gelegentlich hart sein können
gegen den einzelnen, ja muß imstande sein ihn zu opfern, wenn’s das
allgemeine Wohl verlangt. Du brauchst nur dran zu denken, Vater, daß die
ehrlichste und konsequenteste Sozialhygiene direkt darauf ausgehen müßte,
kranke Menschen zu vernichten, oder sie wenigstens von jedem Lebensgenuß
auszuschließen. Und ich leugne gar nicht, daß ich in dieser Richtung allerlei
Ideen habe, die auf den ersten Blick grausam erscheinen könnten. Aber Ideen,
glaub ich, denen die Zukunft gehört. Du brauchst dich nicht zu fürchten,
Vater, daß ich gleich damit beginnen werde, den Mord der Schädlichen und
Überflüssigen zu predigen. Aber philosophisch geht mein Programm ungefähr
darauf hinaus. Weißt du übrigens, mit wem ich neulich über dieses Thema ein
sehr interessantes Gespräch gehabt habe?«
»Was für ein Thema meinst du?«
»Präzis ausgedrückt: ein Gespräch über das Recht, zu töten. Mit Heinrich
Bermann, dem Schriftsteller, dem Sohn des verstorbenen Abgeordneten.«
»Wo hast du denn Gelegenheit gehabt, ihn zu sehen?«
»Neulich in einer Versammlung. Therese Golowski hat ihn mitgebracht. Du
kennst ihn doch auch, nicht wahr, Vater?«
»Ja«, erwiderte der Alte, »schon lang.« Und er fügte hinzu: »Heuer im
Sommer hab ich ihn wieder gesprochen, bei Anna Rosner.«
Wieder zuckte es heftig um Bertholds Brauen. Dann sagte er wie höhnisch:
»So was ähnliches hab ich mir gedacht. Bermann erwähnte nämlich, daß er
dich vor einiger Zeit gesehen hätte, wollte sich aber nicht recht erinnern wo.
Ich schloß daraus, es müßte sich um eine – diskrete Angelegenheit handeln.
Ja. So hat es also dem Herrn Baron beliebt, seine Freunde bei ihr
einzuführen!«
»Dein Ton, lieber Berthold, läßt vermuten, daß gewisse Dinge bei dir doch
nicht so gänzlich überwunden sind, als du früher angedeutet hast.«
Berthold zuckte die Achseln. »Ich habe nie geleugnet, daß mir der Baron
Wergenthin antipathisch ist. Darum war mir ja diese ganze Geschichte von
Anfang an so peinlich.«
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik