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sich verpflichtet, Erkundigungen nach den gesellschaftlichen und
musikalischen Zuständen der kleinen Residenz einzuziehen, aus der Georg
kam. Dann war er mit Anna eine Weile allein gewesen; in allzuhastiger Frag-
und Antwortrede zuerst, später in matt verlegenen Zärtlichkeiten, beide wie
betroffen, das Glück des Wiedersehens nicht so zu empfinden, wie die
Sehnsucht es versprochen hatte. Sehr bald erschien eine Schülerin Annas;
Georg empfahl sich, und im Vorzimmer vereinbarte er mit der Geliebten noch
rasch ein Rendezvous für heute Abend; er wollte sie von Bittners abholen und
dann mit ihr in die Oper zur Tristanvorstellung gehen, über deren
Neuinszenierung zu berichten sein Intendant ihn gebeten hatte. Dann hatte er
sein Mittagmahl eingenommen, an einem großen Fenster eines
Ringstraßenrestaurants, Einkäufe und Bestellungen bei seinen Lieferanten
gemacht, Heinrich aufgesucht, den er nicht zu Hause traf, und war endlich
dem plötzlichen Einfall gefolgt, seine Dankvisite bei Doktor Stauber
abzustatten.
Nun spazierte er langsam weiter, durch die Straßen, die ihm so
wohlbekannt waren, und doch schon den Hauch der Fremde für ihn hatten;
und er dachte an die Stadt, aus der er kam und in der er sich rascher heimisch
werden fühlte, als er erwartet hatte. Graf Malnitz war ihm vom ersten
Augenblick an mit viel Freundlichkeit entgegengekommen; er trug sich mit
dem Plan, die Oper in modernem Sinn zu reformieren und wollte sich für
seine weitgehenden Absichten in Georg, wie es diesem schien, einen
Mitarbeiter und Freund heranziehen. Denn der erste Kapellmeister war wohl
ein tüchtiger Musiker, aber heute doch schon mehr Hofbeamter als Künstler.
Als Fünfundzwanzigjähriger war er herberufen worden und saß nun seit
dreißig Jahren in der kleinen Stadt, ein Familienvater mit sechs Kindern,
angesehen, zufrieden und ohne Ehrgeiz. Bald nach seiner Ankunft, in einem
Konzert, hatte Georg Lieder singen gehört, die vor langer Zeit den Ruf des
jungen Kapellmeisters beinahe durch die ganze Welt getragen hatten; Georg
vermochte diese heute längst verhallte Wirkung nicht zu begreifen, dennoch
äußerte er sich dem Komponisten gegenüber mit großer Wärme, aus einer
gewissen Sympathie für den alternden Mann, in dessen Augen der ferne
Glanz einer reicheren und hoffnungsvolleren Vergangenheit zu leuchten
schien. Georg fragte sich manchmal, ob der alte Kapellmeister überhaupt
noch daran dachte, daß er einst als ein zu hohen Zielen Berufener gegolten
hatte? Oder ob auch ihm, wie so manchem andern der Eingesessenen, die
kleine Stadt als ein Mittelpunkt erschien, von dem die Strahlen der
Wirksamkeit und des Ruhms weit in die Runde fielen? Sehnsucht nach
größern und weitern Verhältnissen hatte Georg nur bei wenigen gefunden;
manchmal schien es ihm, als behandelten sie vielmehr ihn mit einer Art von
gutmütigem Mitleid, weil er aus einer Großstadt, und ganz besonders, weil er
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik