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während man eben von den Tasten zu ihr aufschaute . . .? Oder, wenn man
diese junge Sängerin am hellichten Mittag über den Theaterplatz und die
Königsstraße bis vor ihr Haustor begleitete und bei dieser Gelegenheit nicht
nur über die Partie der Micaela sprach, die man soeben mit ihr studiert hatte,
sondern auch über allerlei andre, wenn auch ziemlich harmlose Dinge; konnte
man das einer Geliebten nach Wien berichten, ohne daß sie zwischen den
Zeilen Verdächtiges gesucht hätte? Und auch wenn man betont hätte, daß
Micaela verlobt sei, mit einem jungen Arzt aus Berlin, der sie anbetete, wie
sie ihn, so wäre es kaum besser geworden; denn das hätte ja ausgesehen, als
fühlte man sich verpflichtet, abzulenken und zu beruhigen.
Wie sonderbar, dachte Georg, daß sie gerade heute Abend wirklich die
Micaela singt, die ich mit ihr studiert habe, und daß ich hier denselben Weg
spaziere, nach Mariahilf hinaus, den ich vor einem Jahr so oft und so gern
gegangen bin. Und er dachte eines ganz bestimmten Abends, da er Anna von
da draußen abgeholt hatte, mit ihr zusammen in stillen Straßen herumspaziert
war, unter einem Haustor komische Photographien betrachtet hatte, und
endlich auf den kühlen Steinfliesen einer alten Kirche gewandelt war, in
leisem, wie ahnungsvollem Gespräch über eine unbekannte Zukunft . . . Nun
war alles ganz anders gekommen, als er es geträumt hatte. Anders . . . Warum
schien ihm das so? . . . Was hatte er damals denn erwartet . . .? War dies Jahr,
das seither vergangen war, nicht wunderbar reich und schön gewesen, mit
seinem Glück und mit seinen Schmerzen? Und liebte er Anna heute nicht
besser und tiefer als je? Und in der neuen Stadt, hatte er sich nicht manchmal
nach ihr gesehnt, so heiß, wie nach einer Frau, die ihm noch niemals gehört
hatte? Das Wiedersehen von heute früh, in der übeln Stimmung einer grauen
Stunde, mit seiner matt verlegenen Zärtlichkeit, das durfte ihn doch nicht
irremachen . . .
Er war zur Stelle. Als er zu den erleuchteten Fenstern aufsah, hinter denen
Anna ihre Lektion erteilte, kam eine leichte Ergriffenheit über ihn. Und als sie
in der nächsten Minute aus dem Tor trat, im einfachen, englischen Kleid, den
grauen Filzhut auf dem reichen, dunkelblonden Haar, ein Buch in der Hand,
ganz so wie vor einem Jahr, da durchströmte ihn mit einmal ein unerwartetes
Gefühl von Glück. Sie sah ihn nicht gleich, da er im Schatten eines Hauses
stand, spannte ihren Schirm auf und ging bis zur Ecke, wo er im vorigen Jahr
zu warten gepflegt hatte. Er blickte ihr eine Weile nach und freute sich, wie
vornehm und wie brav sie aussah. Dann folgte er ihr rasch, und nach ein paar
Schritten hatte er sie eingeholt.
Sie hatte ihm gleich die Mitteilung zu machen, daß sie nicht mit ihm in die
Oper gehen könnte; der Vater hätte sich nachmittags gar nicht wohl befunden.
Georg war sehr enttäuscht. »Willst du nicht wenigstens auf den ersten Akt
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik