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er sie überzeugen, daß es ihm am Ende nicht viel besser erginge als ihr. Und
er wies auf seine Briefe hin, in denen er ihr alles ausführlich geschrieben
hätte.
»Was das anbelangt«, sagte sie plötzlich ganz hart… und als er von ihrem
Ton getroffen, unwillkürlich den Kopf zurückwarf: »Was steht denn schon in
Briefen, wenn sie noch so ausführlich sind!«
Er wußte, woran sie dachte und was sie heute sowenig aussprach, als sie’s
jemals getan hatte, – und etwas Schweres legte sich ihm aufs Herz. Ruhte
nicht gerade in der Unerbittlichkeit dieses Schweigens alles, was sie
verschwieg: Frage, Vorwurf und Zorn? Heute morgen schon hatte er es
gefühlt, und jetzt fühlte er es wieder, daß in ihr irgend etwas ihm geradezu
Feindseliges sich regte, gegen das sie selbst vergeblich anzukämpfen schien.
Heute Morgen erst?… War es nicht schon viel länger her? Immer vielleicht?
Vom ersten Augenblick an, da sie einander gehört hatten und auch in den
Zeiten ihres höchsten Glücks? War dies Feindselige nicht dagewesen, als sie
bei Orgelklängen, hinter dunkeln Vorhängen ihre Brust an seine gedrängt, als
sie in dem Hotelzimmer zu Rom ihn erwartet, mit geröteten Augen, während
er beglückt von dem Monte Pincio aus die Sonne in der Campagna versinken
gesehen und, einsam, die wundervollste Stunde der Reise zu genießen
gewähnt hatte? War es nicht dagewesen, als er an einem heißen Morgen den
Kiesweg hinangelaufen, ihr zu Füßen gesunken war und in ihrem Schoß
geweint hatte, wie in einer Mutter Schoß; – und als er an ihrem Bette gesessen
war und in den abendlichen Garten hinausgeblickt hatte, während drin auf
dem weißen Linnen ein totes Kind lag, das sie eine Stunde zuvor geboren,
war es nicht wieder dagewesen, düsterer als je und kaum zu tragen, wenn man
sich nicht längst damit abgefunden hätte, wie mit so mancher
Unzulänglichkeit, so manchem Weh, das aus den Tiefen menschlicher
Beziehungen emporstieg? Und jetzt, wie schmerzlich fühlte er’s, während er
Arm in Arm mit ihr, sorglich den Schirm über sie haltend, die feuchte Straße
weiterspazierte, jetzt war es wieder da; drohend und vertraut. Noch klangen
die Worte in seinem Ohr, die sie gesprochen hatte: Was steht denn in Briefen,
wenn sie noch so ausführlich sind?… Aber ernstere klangen für ihn mit: Was
bedeutet am Ende auch der glühendste Kuß, in dem sich Leib und Seele zu
vermischen scheinen? Was bedeutet es am Ende, daß wir monatelang durch
fremde Länder miteinander gereist sind? Was bedeutet es, daß ich ein Kind
von dir gehabt habe? Was bedeutet es, daß du dich über deinen Betrug in
meinem Schoße ausgeweint hast? Was bedeutet das alles, da du mich doch
immer allein gelassen hast… allein auch in dem Augenblick, da mein Leib
den Keim des Wesens eintrank, das ich neun Monate in mir getragen, das
dazu bestimmt war, als unser Kind bei fremden Leuten zu leben und das nicht
auf Erden hat bleiben wollen.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik