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feuchten Wald gefahren waren: nicht schöpferische Arbeit, – die Atmosphäre
seiner Kunst allein war es, die ihm zum Dasein nötig war; kein Verdammter
war er wie Heinrich, den es immer trieb zu fassen, zu formen, zu bewahren,
und dem die Welt in StĂĽcke zerfiel, wenn sie seiner gestaltenden Hand
entgleiten wollte.
Isolde, in Brangänens Armen, war tot über Tristans Leiche hingesunken,
die letzten Töne verklangen, der Vorhang fiel. Georg warf einen Blick nach
der Loge im ersten Stock. Else stand an der BrĂĽstung, den Blick zu ihm
herabgerichtet, während James ihr den dunkelroten Mantel um die Schultern
legte, und jetzt erst, nach einem Kopfnicken, – so rasch, als hätte es niemand
bemerken sollen, – wandte sie sich dem Ausgang zu. Merkwürdig, dachte
Georg, von weitem hat ihre Haltung, hat manche ihrer Bewegungen so
etwas… melancholisch-romanhaftes. Da erinnert sie mich am ehesten an das
Zigeunermädel aus Nizza, oder an das seltsame junge Wesen, mit dem ich in
Florenz vor der Tizianischen Venus gestanden bin… Hat sie mich jemals
geliebt? Nein. Und auch ihren James liebt sie nicht. Wen denn?…
Vielleicht… war es doch der verrückte Zeichenlehrer in Florenz? Oder keiner.
Oder gar Heinrich? –
Im Foyer traf er Skelton. »Also wieder zurückgekehrt?« fragte dieser.
»Nur auf ein paar Tage«, erwiderte Georg. Es stellte sich heraus, daß
Skelton nicht recht gewuĂźt hatte, was mit Georg vorging und ihn auf einer Art
musikalischer Studienreise durch deutsche Städte geglaubt hatte. Nun war er
ziemlich erstaunt zu hören, daß Georg sich auf Urlaub hier befände und sich
die Neuinszenierung des »Tristan« sozusagen im Auftrag des Intendanten
angesehen hätte.
»Ist es Ihnen recht?« sagte Skelton, »ich bin verabredet mit Breitner; im
Imperial, weißer Saal.«
»Famos«, erwiderte Georg, »ich wohne dort.«
Doktor von Breitner rauchte schon eine seiner berĂĽhmten Riesenzigarren,
als die beiden Herren an seinem Tisch erschienen. »Was für eine
Überraschung«, rief er aus, als Georg ihn begrüßte. Ihm war es bekannt, daß
Georg als Kapellmeister in DĂĽsseldorf wirkte.
»Detmold«, sagte Georg, und er dachte: Sonderlich viel beschäftigen sich
die Leute hier ja nicht mit mir… Aber was tut’s.
Skelton erzählte von der Tristanvorstellung, und Georg erwähnte, daß er
Ehrenbergs gesprochen hatte.
»Wissen Sie, daß Oskar Ehrenberg sich auf dem Weg nach Indien oder
Ceylon befindet?« fragte Doktor von Breitner.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik