Page - 281 - in Der Weg ins Freie
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daß jeder Seelenschmerz irgendwie unserer Eitelkeit schmeichelt, was man
von einem Typhus oder einem Magenkatarrh nicht behaupten kann. Und beim
Künstler kommt vielleicht dazu, daß aus einem Magenkatarrh absolut nichts
zu holen ist… wenigstens vor kurzem stand das noch ziemlich fest… aus
Seelenschmerzen hingegen alles, was man nur will, vom lyrischen Gedichte
bis zu philosophischen Werken.«
»Es gibt doch wohl Seelenschmerzen recht verschiedener Art«, erwiderte
Georg. »Und es ist doch noch etwas anderes, wenn uns eine Geliebte betrügt
oder verläßt… und selbst wenn sie eines natürlichen Todes stirbt, als wenn sie
sich unseretwegen umbringt.«
»Sie wissen ganz bestimmt?« fragte Nürnberger, »daß Heinrichs Geliebte
sich seinetwegen umgebracht hat?«
»Hat Ihnen denn Heinrich nicht erzählt… ?«
»Allerdings. Aber das beweist nicht viel. In Hinsicht auf Dinge, die uns
selber angehen, sind wir immer Tröpfe, auch die Klügsten unter uns.«
Solche Bemerkungen aus Nürnbergers Munde hatten für Georg etwas
seltsam Beunruhigendes. Sie gehörten in die Reihe jener, die Nürnberger
nicht ungern vernehmen ließ und die, wie Heinrich sich einmal ausgedrückt
hatte, den Sinn jedes menschlichen Verkehrs, ja aller menschlichen
Beziehungen geradezu aufhoben.
Nürnberger sprach weiter: »Wir kennen nur zwei Tatsachen. Die eine, daß
unser Freund einmal mit einer jungen Dame ein Verhältnis gehabt und die
andere, daß diese junge Dame sich ins Wasser gestürzt hat. Von allem, was
dazwischen liegt, ist uns beiden so gut wie nichts und Heinrich
wahrscheinlich nicht viel mehr bekannt. Warum sie sich umgebracht hat,
können wir alle nicht wissen, und vielleicht hat die Arme selbst es auch nicht
gewußt.«
Georg sah durchs Fenster, erblickte Dächer, Schornsteine, verwitterte
Röhren und ziemlich nah den hellgrauen Turm mit der durchbrochenen
Steinkuppel. Der Himmel darüber war blaß und leer. Es fiel Georg plötzlich
auf, daß Nürnberger noch mit keinem Wort nach Anna gefragt hatte. Was
mochte er wohl vermuten? Am Ende, daß Georg sie verlassen und sie sich
schon mit einem andern Liebhaber getröstet hätte? Warum bin ich nach Wien
gefahren, dachte er flüchtig, – wie wenn seine Reise keinen andern Zweck
gehabt hätte, als sich von Nürnberger Aufschlüsse über das Dasein erteilen zu
lassen, die nun schlimm genug ausgefallen waren. Es schlug zwölf. Georg
nahm Abschied. Nürnberger begleitete ihn bis an die Tür und dankte ihm für
den Besuch. Mit Herzlichkeit, als hätte das frühere Gespräch über Georgs
neuen Aufenthaltsort überhaupt keine Geltung zu beanspruchen, erkundigte er
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik