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Ausrede sein.
Als er bei Rosners eintrat, saß die Mutter allein am Tische, sah von einem
Buche auf und klappte es zu. Über den Tisch, gleichmäßig nach allen Seiten,
glitt von oben der Schein einer leicht hin und her schwingenden Lampe. Josef
erhob sich aus einer Divanecke. Anna trat eben aus ihrem Zimmer, strich mit
beiden Händen über das hochgekämmte, gewellte Haar, begrüßte Georg mit
leichtem Kopfneigen und hatte für ihn in diesem Augenblick mehr von einer
Erscheinung als von einer wirklichen Gestalt. Georg reichte allen die Hand
und erkundigte sich nach dem Befinden des Herrn Rosner.
»Es geht ihm nicht grad schlecht«, sagte Frau Rosner. »Aber aufstehen
kann er halt schwer.«
Josef entschuldigte sich, daß er schlafend auf dem Divan betroffen worden
war. Er mußte den Sonntag benutzen, um sich auszuruhen. Er bekleidete eine
Stellung bei seiner Zeitung, die ihn nachts manchmal bis drei festhielt.
»Er ist jetzt sehr fleißig«, bestätigte auch die Mutter.
»Ja«, sagte Josef bescheiden, »wenn man gewissermaßen einen
Wirkungskreis hat… « Er bemerkte weiter, daß der »Christliche Volksbote«
sich einer immer größern Verbreitung erfreue, sogar draußen im Reich. Dann
richtete er an Georg einige Fragen über dessen neuen Aufenthaltsort,
interessierte sich lebhaft für Bevölkerungszahl, Zustand der Straßen,
Verbreitung des Radfahrsports und Umgebung.
Frau Rosner ihrerseits erkundigte sich höflich nach der Zusammenstellung
des Repertoires, Georg gab Auskunft, bald war ein Gespräch im Gange, an
dem sich auch Anna sachlich beteiligte, und Georg fand sich plötzlich zu
Besuch in einer Bürgerfamilie von angenehmen Umgangsformen, in der die
Tochter des Hauses musikalisch war. Die Unterhaltung gelangte endlich
dahin, daß Georg sich zur Äußerung des Wunsches veranlaßt fand, die junge
Dame wieder einmal singen zu hören – und er mußte sich gleichsam
besinnen, daß es ja seine Anna war, deren Stimme zu vernehmen ihn verlangt
hatte.
Josef entschuldigte sich; ein Rendezvous im Kaffee mit Klubgenossen rief
ihn ab… »Wissen sich Herr Baron noch zu erinnern… die flotte Gesellschaft
auf der Sophienalpe?«
»Gewiß«, sagte Georg lächelnd. Und er zitierte: »Der Gott, der Eisen
wachsen ließ… «
»Der wollte keine Knechte«, ergänzte Josef. »Aber das singen wir schon
lange nicht mehr. Es ist zu verwandt mit der ›Wacht am Rhein«; und man soll
uns nicht mehr nachsagen, daß wir über die Grenze schielen. Es hat große
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik