Page - 302 - in Der Weg ins Freie
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Endlich standen sie vor dem kleinen Haus mit dem Giebel, das Georg ein
letztes Mal hatte sehen wollen. Tür und Fenster waren mit Brettern
verschlagen; verwittert, wie uralt geworden vor der Zeit, stand es da und
wollte von der Welt nichts wissen.
»Ja, nun heißt es Abschied nehmen«, sagte Georg in leichtem Ton. Sein
Blick fiel auf die Tonfigur inmitten der verblühten Beete. »Komisch«, sagte er
zu Heinrich, »daß ich den blauen Knaben da immer für einen Engel gehalten
hab. Das heißt, ich hab ihn nur so genannt, denn ich hab ja immer gewußt,
wie er aussieht, und daß er eigentlich ein gelockter Bub ist, barfuß, mit
Röckchen und Gürtel.«
»Heut über ein Jahr«, sagte Heinrich, »hätten Sie doch geschworen, daß der
blaue Knabe Flügel gehabt hat.«
Georg warf einen Blick nach oben zur Mansarde. Es war ihm, als bestände
die Möglichkeit, daß irgend jemand plötzlich auf den Balkon heraustreten
könnte. Labinski vielleicht, der sich seit jenem Traum nicht mehr gemeldet
hatte? Oder er selber, ein Georg von Wergenthin aus früherer Zeit? Der Georg
dieses Sommers, der dort oben gewohnt hatte? Dumme Einfälle. Der Balkon
blieb leer, das Haus war stumm, und der Garten schlummerte tief. Enttäuscht
wandte Georg sich ab. »Kommen Sie«, sagte er zu Heinrich. Sie gingen und
nahmen die Straße zum Sommerhaidenweg.
»Wie warm es geworden ist«, sagte Heinrich, zog den Überzieher aus und
warf ihn seiner Gewohnheit nach über die Schultern.
In Georg war ein ödes, etwas trockenes Erinnern. Er wandte sich an
Heinrich. »Ich will es Ihnen lieber gleich sagen. Die Geschichte ist aus.«
Heinrich sah ihn rasch von der Seite an, dann nickte er, nicht sonderlich
überrascht.
»Aber«, setzte Georg mit einem schwachen Versuch zu scherzen hinzu,
»Sie werden dringend gebeten, nicht an den Engelsknaben zu denken.«
Heinrich schüttelte ernsthaft den Kopf. »Danke. Die Fabel vom blauen
Engel können Sie Nürnberger widmen.«
»Er hat doch wieder einmal recht behalten«, sagte Georg.
»Er behält immer recht, lieber Georg. Man kann nämlich nie und nimmer
betrogen werden, wenn man allem auf Erden mißtraut, sogar seinem eigenen
Mißtrauen. Auch wenn Sie Anna geheiratet hätten, hätte er recht behalten…
oder es käme Ihnen wenigstens so vor. Aber jedenfalls denk ich… Sie
erlauben mir wohl das auszusprechen… ist es gut so, wie es gekommen ist.«
»Gut? Für mich gewiß«, erwiderte Georg mit absichtlicher Schärfe, als
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik