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durch den Sinn. Aber ernstlich hab ich natürlich nie daran gedacht. Wie sollte
man auch?« Er erzählte Heinrich nicht zum erstenmal, wie der Professor
damals den Tod des Kindes erklärt hatte. Ein unglücklicher Zufall war es
gewesen, an dem ein bis zwei Perzent der Neugeborenen zugrunde gehen
mußten. Freilich, warum gerade hier dieser Zufall eingetreten war, das hatte
der Professor nicht zu sagen gewußt. Aber war Zufall nicht nur ein Wort?
Mußte nicht auch dieser Zufall seine Ursache gehabt haben?…
Heinrich zuckte die Achseln. »Natürlich… Eine Ursache nach der andern
und seinen letzten Grund im Anfang aller Dinge. Wir könnten gewiß das
Eintreten mancher sogenannten Zufälle verhindern, wenn wir mehr Überblick
hätten, mehr Wissen und mehr Macht. Wer weiß, ob nicht auch der Tod Ihres
Kindes in irgendeinem Augenblick abzuwenden war?«
»Und vielleicht wäre es sogar in meiner Macht gestanden«, sagte Georg
langsam.
»Das versteh ich nicht. Waren denn irgendwelche Vorzeichen, oder… «
Georg stand da, den Blick starr auf den kleinen Hügel gerichtet: »Ich will
Sie was fragen, Heinrich, aber lachen Sie mich nicht aus. Halten Sie es für
möglich, daß ein ungeborenes Kind daran sterben kann, daß man es nicht so
herbeisehnt, wie man sollte: an zu wenig Liebe gewissermaßen?«
Heinrich legte ihm die Hand auf die Schulter. »Georg, wie kommen Sie,
der sonst ein so anständiger Mensch ist, auf derartige metaphysische
Einfälle?«
»Nennen Sie’s, wie Sie wollen, metaphysisch oder dumm; ich kann seit
einiger Zeit den Gedanken nicht los werden, daß ich in einem gewissen Grad
an diesem Ausgang die Schuld trage.«
»Sie?«
»Wenn ich früher sagte, daß ich’s nicht genug herbeigesehnt habe, so hab
ich mich nicht gut ausgedrückt. Die Wahrheit ist: daß ich an dieses kleine
Wesen, das auf die Welt kommen sollte, geradezu vergessen hatte. Und
besonders in den letzten Wochen vor seiner Geburt hatte ich es völlig
vergessen gehabt. Ich kann’s nicht anders sagen. Natürlich wußte ich immer,
was bevorstand, aber es ging mich sozusagen nichts an. Ich habe hingelebt,
ohne dran zu denken. Nicht immerfort, aber oft und ganz besonders im
Sommer am See, an meinem See, wie Sie ihn nennen… da war ich… Ja da
wußt ich einfach nichts davon, daß ich ein Kind bekommen sollte.«
»Man hat mir allerlei erzählt«, sagte Heinrich vorbeischauend.
Georg sah ihn an. »So wissen Sie also, was ich meine. Nicht nur dem Kind,
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik