Page - 306 - in Der Weg ins Freie
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unschuldig, Feiglinge und Helden, Narren und Weise. ›Wir‹ – das ist
vielleicht etwas zu allgemein ausgedrückt. Bei Ihnen, zum Beispiel, Georg,
dürften sich alle diese Dinge viel einfacher verhalten, wenigstens wenn Sie
von der Atmosphäre unbeeinflußt sind, die ich zuweilen um Sie verbreite.
Darum geht’s Ihnen auch besser als mir. Viel besser. In mir sieht’s nämlich
greulich aus. Sollten Sie das noch nicht bemerkt haben? Was hilft’s mir am
Ende, daß in allen meinen Stockwerken die Lichter brennen? Was hilft mir
mein Wissen von den Menschen und mein herrliches Verstehen? Nichts…
Weniger als nichts. Im Grunde möcht ich ja doch nichts anderes, Georg, als
daß all das Furchtbare der letzten Zeit nichts gewesen wäre, als ein böser
Traum. Ich schwöre Ihnen, Georg, meine ganze Zukunft und weiß Gott was
alles gäb ich her, wenn ich’s ungeschehen machen könnte. Und wär es
ungeschehen… so wär ich wahrscheinlich geradeso elend wie jetzt.«
Sein Gesicht verzerrte sich, als wenn er aufschreien wollte. Gleich aber
stand er wieder da, starr, regungslos, fahl, wie ausgelöscht. Und er sagte:
»Glauben Sie mir, Georg, es gibt Momente, in denen ich die Menschen mit
der sogenannten Weltanschauung beneide. Ich, wenn ich eine wohlgeordnete
Welt haben will, ich muß mir immer selber erst eine schaffen. Das ist
anstrengend für jemanden, der nicht der liebe Gott ist.«
Er seufzte schwer auf. Georg gab es auf, ihm zu erwidern. Unter den
Weiden schritt er mit ihm dem Ausgang zu. Er wußte, daß diesem Menschen
nicht zu helfen war. Irgend einmal war ihm wohl bestimmt, von einer
Turmspitze, auf die er in Spiralen hinaufgeringelt war, hinabzustürzen ins
Leere; und das würde sein Ende sein. Georg aber war es gut und frei zumut.
Er faßte den Entschluß, die drei Tage, die jetzt ihm gehörten, so vernünftig als
möglich auszunutzen. Das beste war wohl, irgendwo in einer schönen, stillen
Landschaft allein zu sein, auszuruhen und sich zur neuen Arbeit zu sammeln.
Das Manuskript der Violinsonate hatte er mit nach Wien genommen. Die vor
allem dachte er zu vollenden.
Sie durchschritten das Tor und standen auf der Straße. Georg wandte sich
um, aber die Friedhofsmauer hielt seinen Blick auf. Erst nach ein paar
Schritten hatte er den Ausblick nach dem Talgrund wieder frei. Doch konnte
er nur mehr ahnen, wo das kleine Haus mit dem grauen Giebel lag; sichtbar
war es von hier aus nicht mehr. Über die rötlich-gelben Hügel, die die
Landschaft abschlossen, sank der Himmel in mattem Herbstschein. In Georgs
Seele war ein mildes Abschiednehmen von mancherlei Glück und Leid, die er
in dem Tal, das er nun für lange verließ, gleichsam verhallen hörte; und
zugleich ein Grüßen unbekannter Tage, die aus der Weite der Welt seiner
Jugend entgegenklangen.
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Der Weg ins Freie
- Title
- Der Weg ins Freie
- Author
- Arthur Schnitzler
- Date
- 1908
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 306
- Keywords
- Literatur, Wien, Gesellschaft, Sozialismus
- Categories
- Weiteres Belletristik