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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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verziehen. Und dieses Wissen um das ständige und mitleidlose Überwachtsein zwang jedem Künstler in Wien sein Äußerstes ab und gab dem Ganzen das wunderbare Niveau. Jeder von uns hat von diesen Jugendjahren ein strenges, ein unerbittliches Maß für künstlerische Darbietung in sein Leben mitgenommen. Wer in der Oper unter Gustav Mahler eisernste Disziplin bis ins kleinste Detail, bei den Philharmonikern Schwungkraft mit Akribie als selbstverständlich verbunden gekannt, der ist eben heute selten von einer theatralischen oder musikalischen Aufführung voll befriedigt. Aber damit haben wir gelernt, auch gegen uns selbst bei jeder Kunstdarbietung streng zu sein; ein Niveau war und blieb uns vorbildlich, wie es in wenigen Städten der Welt dem werdenden Künstler anerzogen wurde. Aber auch tief in das Volk hinab ging dieses Wissen um richtigen Rhythmus und Schwung, denn selbst der kleinste Bürger, der beim ›Heurigen‹ saß, verlangte von der Kapelle ebenso gute Musik wie vom Wirt guten Wein; im Prater wiederum wußte das Volk genau, welche Militärkapelle den meisten ›Schmiß‹ hatte, ob die ›Deutschmeister‹ oder die ›Ungarn‹; wer in Wien lebte, bekam gleichsam aus der Luft das Gefühl für Rhythmus in sich. Und so wie diese Musikalität sich bei uns Schriftstellern in einer besonders gepflegten Prosa ausdrückte, drang das Taktgefühl bei den andern in die gesellschaftliche Haltung und in das tägliche Leben ein. Ein Wiener ohne Kunstsinn und Formfreude war undenkbar in der sogenannten ›guten‹ Gesellschaft, aber selbst in den unteren Ständen nahm der Ärmste einen gewissen Instinkt für Schönheit schon aus der Landschaft, aus der menschlich heiteren Sphäre in sein Leben mit; man war kein wirklicher Wiener ohne diese Liebe zur Kultur, ohne diesen gleichzeitig genießenden und prüfenden Sinn für diese heiligste Überflüssigkeit des Lebens. Nun ist Anpassung an das Milieu des Volkes oder des Landes, inmitten dessen sie wohnen, für Juden nicht nur eine äußere Schutzmaßnahme, sondern ein tief innerliches Bedürfnis. Ihr Verlangen nach Heimat, nach Ruhe, nach Rast, nach Sicherheit, nach Unfremdheit drängt sie, sich der Kultur ihrer Umwelt leidenschaftlich zu verbinden. Und kaum verwirklichte sich – außer in Spanien im fünfzehnten Jahrhundert – eine solche Bindung glücklicher und fruchtbarer als in Österreich. Seit mehr als zweihundert Jahren eingesessen in der Kaiserstadt, begegneten die Juden hier einem leichtlebigen, zur Konzilianz geneigten Volke, dem unter dieser scheinbar lockeren Form derselbe tiefe Instinkt für geistige und ästhetische Werte, wie sie ihnen selbst so wichtig waren, innewohnte. Und sie begegneten sogar noch mehr in Wien; sie fanden hier eine persönliche Aufgabe. In dem letzten Jahrhundert hatte die Kunstpflege in Österreich ihre alten traditionellen Hüter und Protektoren verloren: das Kaiserhaus und die Aristokratie. Während im achtzehnten 23
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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