Seite - 23 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 23 -
Text der Seite - 23 -
verziehen. Und dieses Wissen um das ständige und mitleidlose Überwachtsein
zwang jedem Künstler in Wien sein Äußerstes ab und gab dem Ganzen das
wunderbare Niveau. Jeder von uns hat von diesen Jugendjahren ein strenges,
ein unerbittliches Maß für künstlerische Darbietung in sein Leben
mitgenommen. Wer in der Oper unter Gustav Mahler eisernste Disziplin bis
ins kleinste Detail, bei den Philharmonikern Schwungkraft mit Akribie als
selbstverständlich verbunden gekannt, der ist eben heute selten von einer
theatralischen oder musikalischen Aufführung voll befriedigt. Aber damit
haben wir gelernt, auch gegen uns selbst bei jeder Kunstdarbietung streng zu
sein; ein Niveau war und blieb uns vorbildlich, wie es in wenigen Städten der
Welt dem werdenden Künstler anerzogen wurde. Aber auch tief in das Volk
hinab ging dieses Wissen um richtigen Rhythmus und Schwung, denn selbst
der kleinste Bürger, der beim ›Heurigen‹ saß, verlangte von der Kapelle
ebenso gute Musik wie vom Wirt guten Wein; im Prater wiederum wußte das
Volk genau, welche Militärkapelle den meisten ›Schmiß‹ hatte, ob die
›Deutschmeister‹ oder die ›Ungarn‹; wer in Wien lebte, bekam gleichsam aus
der Luft das Gefühl für Rhythmus in sich. Und so wie diese Musikalität sich
bei uns Schriftstellern in einer besonders gepflegten Prosa ausdrückte, drang
das Taktgefühl bei den andern in die gesellschaftliche Haltung und in das
tägliche Leben ein. Ein Wiener ohne Kunstsinn und Formfreude war
undenkbar in der sogenannten ›guten‹ Gesellschaft, aber selbst in den unteren
Ständen nahm der Ärmste einen gewissen Instinkt für Schönheit schon aus
der Landschaft, aus der menschlich heiteren Sphäre in sein Leben mit; man
war kein wirklicher Wiener ohne diese Liebe zur Kultur, ohne diesen
gleichzeitig genießenden und prüfenden Sinn für diese heiligste
Überflüssigkeit des Lebens.
Nun ist Anpassung an das Milieu des Volkes oder des Landes, inmitten
dessen sie wohnen, für Juden nicht nur eine äußere Schutzmaßnahme,
sondern ein tief innerliches Bedürfnis. Ihr Verlangen nach Heimat, nach Ruhe,
nach Rast, nach Sicherheit, nach Unfremdheit drängt sie, sich der Kultur ihrer
Umwelt leidenschaftlich zu verbinden. Und kaum verwirklichte sich – außer
in Spanien im fünfzehnten Jahrhundert – eine solche Bindung glücklicher und
fruchtbarer als in Österreich. Seit mehr als zweihundert Jahren eingesessen in
der Kaiserstadt, begegneten die Juden hier einem leichtlebigen, zur
Konzilianz geneigten Volke, dem unter dieser scheinbar lockeren Form
derselbe tiefe Instinkt für geistige und ästhetische Werte, wie sie ihnen selbst
so wichtig waren, innewohnte. Und sie begegneten sogar noch mehr in Wien;
sie fanden hier eine persönliche Aufgabe. In dem letzten Jahrhundert hatte die
Kunstpflege in Österreich ihre alten traditionellen Hüter und Protektoren
verloren: das Kaiserhaus und die Aristokratie. Während im achtzehnten
23
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286