Seite - 189 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Im Herzen Europas
Als zu Ostern 1917 meine Tragödie ›Jeremias‹ in Buchform erschien, erlebte
ich eine Überraschung. Ich hatte sie innerlich in erbittertstem Widerstand
gegen die Zeit geschrieben und mußte darum erbitterten Widerstand erwarten.
Aber genau das Gegenteil ereignete sich. Von dem Buche wurden
zwanzigtausend Exemplare sofort verkauft, eine für ein Buchdrama
phantastische Zahl; nicht nur die Freunde wie Romain Rolland setzten sich
öffentlich dafür ein, sondern auch jene, die vordem eher auf der anderen Seite
gestanden wie Rathenau und Richard Dehmel. Direktoren von Theatern,
denen das Drama gar nicht eingereicht worden war – eine deutsche
Aufführung während des Krieges blieb doch undenkbar – schrieben mir und
baten mich, ihnen die Uraufführung zu reservieren für die Friedenszeit; selbst
die Opposition der Kriegerischen zeigte sich höflich und respektvoll. Alles
hatte ich erwartet, nur nicht dies.
Was war geschehen? Nichts anderes als daß der Krieg eben schon
zweieinhalb Jahre andauerte: die Zeit hat ihr Werk grausamer Ernüchterung
getan. Nach dem furchtbaren Aderlaß auf den Schlachtfeldern begann das
Fieber zu weichen. Die Menschen sahen mit kälteren, härteren Augen dem
Krieg ins Gesicht als in den ersten Monaten der Begeisterung. Das Gefühl der
Solidarität begann sich zu lockern, denn von der großen ›sittlichen
Reinigung‹, die von den Philosophen und Dichtern überschwenglich
verkündigt worden war, nahm man nicht mehr das geringste wahr. Ein tiefer
Riß ging durch das ganze Volk; das Land war gleichsam in zwei verschiedene
Welten zerfallen, vorne die der Soldaten, die kämpften und das
Grauenhafteste an Entbehrung erlitten, rückwärts die der
Zuhausegebliebenen, die sorglos weiterlebten, die Theater bevölkerten und an
dem Elend der anderen noch verdienten. Front und Hinterland profilierten
sich immer schärfer gegeneinander. Durch die Türen der Ämter hatte sich in
hundert Masken ein wüstes Protektionswesen eingeschlichen; man wußte, daß
Leute durch Geld oder gute Konnexionen einträgliche Lieferungen bekamen,
während schon halbzerschossene Bauern oder Arbeiter immer wieder in die
Schützengräben getrieben wurden. Jeder begann darum sich rücksichtslos zu
helfen, soweit er nur konnte. Die notwendigen Gebrauchsgegenstände wurden
dank eines schamlosen Zwischenhandels täglich teurer, die Lebensmittel
kärglicher, und über dem grauen Sumpf des Massenelends phosphoreszierte
wie ein Irrlicht der aufreizende Luxus der Kriegsgewinnler. Ein erbittertes
Mißtrauen begann allmählich die Bevölkerung zu erfassen – Mißtrauen gegen
das Geld, das immer mehr an Wert verlor, Mißtrauen gegen die Generäle, die
Offiziere, die Diplomaten, Mißtrauen gegen jede Verlautbarung des Staats
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286