Seite - 240 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Sonnenuntergang
Es war – dankbar will ich mich dessen immer wieder erinnern – für Europa
eine verhältnismäßig ruhige Zeit, dieses Jahrzehnt von 1924 bis 1933, ehe
jener eine Mensch unsere Welt verstörte. Gerade weil sie an den
Beunruhigungen so schwer gelitten, nahm unsere Generation den relativen
Frieden als unverhofftes Geschenk. Wir alle hatten das Gefühl, man müsse
nachholen, was die schlimmen Jahre des Kriegs und des Nachkriegs aus
unserem Leben an Glück, an Freiheit, an geistiger Konzentration gestohlen;
man arbeitete mehr und doch entlasteter, man wanderte, man versuchte, man
entdeckte sich wieder Europa, die Welt. Nie sind die Menschen so viel gereist
wie in diesen Jahren, – war es die Ungeduld der jungen Leute, hastig
gutzumachen, was sie versäumt in ihrem gegenseitigen Abgesperrtsein? War
es vielleicht ein dunkles Vorgefühl, man müsse noch rechtzeitig ausbrechen
aus der Enge, ehe die Sperre wieder von neuem begann?
Auch ich reiste viel in jener Zeit, nur war es schon ein anderes Reisen als in
den Tagen meiner Jugend. Denn ich war jetzt in den Ländern kein Fremder
mehr, überall hatte ich Freunde, Verleger, ein Publikum, ich kam als der Autor
meiner Bücher und nicht mehr als der anonyme Neugierige von einst. Das
brachte allerhand Vorteile. Ich konnte mit stärkerem Nachdruck und breiterer
Wirkung für die Idee werben, die seit Jahren die eigentliche meines Lebens
geworden: für die geistige Einigung Europas. Ich hielt in diesem Sinne
Vorlesungen in der Schweiz, in Holland, ich sprach französisch im Palais des
Arts in Brüssel, italienisch in Florenz in der historischen Sala dei Dugento,
wo Michelangelo und Lionardo gesessen, englisch in Amerika auf einer
lecture tour vom Atlantischen zum Pazifischen Ozean. Es war ein anderes
Reisen; überall sah ich jetzt kameradschaftlich die Besten des Landes, ohne
sie suchen zu müssen; die Männer, zu denen ich in meiner Jugend ehrfürchtig
aufgesehen und denen ich nie eine Zeile zu schreiben gewagt hätte, waren mir
Freunde geworden. Ich trat in Kreise, die sonst sich dem Fremden hochmütig
verschließen, ich sah die Palais des Faubourg St. Germain, die Palazzi
Italiens, die privaten Sammlungen; in den öffentlichen Bibliotheken stand ich
nicht mehr bittend am Schalter der Bücherausgabe, sondern die Direktoren
zeigten mir persönlich die verborgenen Schätze, bei den Antiquaren der
Dollarmillionäre wie Dr. Rosenbach in Philadelphia, an deren Läden der
kleine Sammler mit scheuem Blick vorbeigegangen, war ich zu Gast. Ich
hatte zum erstenmal Einblick in die sogenannte ›obere‹ Welt und dazu die
Behaglichkeit, die Bequemlichkeit, daß ich niemanden um Einlaß bemühen
mußte, sondern daß alles an mich herankam. Aber sah ich damit die Welt
besser? Immer wieder überkam mich Sehnsucht nach den Reisen meiner
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286