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Universitas vitae
Endlich war der lang ersehnte Augenblick gekommen, da wir mit dem letzten
Jahr des alten Jahrhunderts auch die Tür des verhaßten Gymnasiums hinter
uns zuschlagen konnten. Nach mühsam bestandener Schlußprüfung – denn
was wußten wir von Mathematik, Physik und den scholastischen Materien? –
beehrte uns, die wir zu diesem Anlaß schwarze feierliche Bratenröcke
anziehen mußten, der Schuldirektor mit einer schwungvollen Rede. Wir seien
nun erwachsen und sollten durch Fleiß und Tüchtigkeit unserem Vaterlande
Ehre machen. Damit war eine achtjährige Kameradschaft zersprengt, wenige
meiner Gefährten auf der Galeere habe ich seitdem wiedergesehen. Die
meisten von uns inskribierten sich an der Universität, und neidvoll blickten
uns diejenigen nach, die sich mit anderen Berufen und Beschäftigungen
abfinden mußten.
Denn die Universität hatte in jenen verschollenen Zeiten in Österreich noch
einen besonderen, romantischen Nimbus; Student zu sein, gewährte gewisse
Vorrechte, die den jungen Akademiker weit über alle Altersgenossen
privilegierten; diese antiquarische Sonderbarkeit dürfte in außerdeutschen
Ländern wenig bekannt und darum in ihrer Absurdität und Unzeitgemäßheit
einer Erklärung bedürftig sein. Unsere Universitäten waren meist noch im
Mittelalter gegründet worden, zu einer Zeit also, da Beschäftigung mit den
gelehrten Wissenschaften als etwas Außerordentliches galt, und um junge
Menschen zum Studium heranzulocken, verlieh man ihnen gewisse
Standesvorrechte. Die mittelalterlichen Scholaren unterstanden nicht dem
gewöhnlichen Gericht, durften in ihren Collegien nicht von den Bütteln
gesucht oder belästigt werden, sie trugen besondere Tracht, hatten das Recht,
sich ungestraft zu duellieren und waren als eine geschlossene Gilde mit
eigenen Sitten oder Unsitten anerkannt. Im Lauf der Zeit und mit der
zunehmenden Demokratisierung des öffentlichen Lebens, als alle andern
mittelalterlichen Gilden und Zünfte sich auflösten, verlor sich in ganz Europa
diese Vorrechtsstellung der Akademiker; nur in Deutschland und in dem
deutschen Österreich, wo das Klassenbewußtsein immer über das
demokratische die Oberhand behielt, hingen die Studenten zäh an diesen
längst sinnlos gewordenen Vorrechten und bauten sie sogar zu einem eigenen
studentischen Kodex aus. Der deutsche Student legte sich vor allem eine
besondere Art studentischer ›Ehre‹ neben der bürgerlichen und allgemeinen
zu. Wer ihn beleidigte, mußte ihm ›Satisfaktion‹ geben, das heißt, mit der
Waffe im Duell entgegentreten, sofern er sich als ›satisfaktionsfähig‹ erwies.
›Satisfaktionsfähig‹ wiederum war nun nach dieser selbstgefälligen
Bewertung nicht etwa ein Kaufmann oder ein Bankier, sondern nur ein
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286