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Eros Matutinus
Während dieser acht Jahre der höheren Schule ereignete sich für jeden von
uns ein höchst persönliches Faktum: wir wurden aus zehnjährigen Kindern
allmählich sechzehnjährige, siebzehnjährige, achtzehnjährige mannbare junge
Menschen, und die Natur begann ihre Rechte anzumelden. Dieses Erwachen
der Pubertät scheint nun ein durchaus privates Problem, das jeder
heranwachsende Mensch auf seine eigene Weise mit sich auszukämpfen hat,
und für den ersten Blick keineswegs zu öffentlicher Erörterung geeignet. Für
unsere Generation aber wuchs jene Krise über ihre eigentliche Sphäre hinaus.
Sie zeigte zugleich ein Erwachen in einem anderen Sinne, denn sie lehrte uns
zum erstenmal jene gesellschaftliche Welt, in der wir aufgewachsen waren,
und ihre Konventionen mit kritischerem Sinn zu beobachten. Kinder und
selbst junge Leute sind im allgemeinen geneigt, sich zunächst den Gesetzen
ihres Milieus respektvoll anzupassen. Aber sie unterwerfen sich den ihnen
anbefohlenen Konventionen nur insolange, als sie sehen, daß diese auch von
allen andern ehrlich innegehalten werden. Eine einzige Unwahrhaftigkeit bei
Lehrern oder Eltern treibt den jungen Menschen unvermeidlich an, seine
ganze Umwelt mit mißtrauischem und damit schärferem Blick zu betrachten.
Und wir brauchten nicht lange, um zu entdecken, daß alle jene Autoritäten,
denen wir bisher Vertrauen geschenkt, daß Schule, Familie und die öffentliche
Moral in diesem einen Punkt der Sexualität sich merkwürdig unaufrichtig
gebärdeten – und sogar mehr noch: daß sie auch von uns in diesem Belange
Heimlichkeit und Hinterhältigkeit forderten.
Denn man dachte anders über die Dinge vor dreißig und vierzig Jahren als
in unserer heutigen Welt. Vielleicht auf keinem Gebiete des öffentlichen
Lebens hat sich durch eine Reihe von Faktoren – die Emanzipation der Frau,
die Freudsche Psychoanalyse, den sportlichen Körperkult, die
Verselbständigung der Jugend – innerhalb eines einzigen Menschenalters eine
so totale Verwandlung vollzogen wie in den Beziehungen der Geschlechter
zueinander. Versucht man den Unterschied der bürgerlichen Moral des
neunzehnten Jahrhunderts, die im wesentlichen eine victorianische war,
gegenüber den heute gültigen, freieren und unbefangeneren Anschauungen zu
formulieren, so kommt man der Sachlage vielleicht am nächsten, wenn man
sagt, daß jene Epoche dem Problem der Sexualität aus dem Gefühl der
inneren Unsicherheit ängstlich auswich. Frühere, noch ehrlich religiöse
Zeitalter, insbesondere die streng puritanischen, hatten es sich leichter
gemacht. Durchdrungen von der redlichen Überzeugung, daß sinnliches
Verlangen der Stachel des Teufels sei und körperliche Lust Unzucht und
Sünde, hatten die Autoritäten des Mittelalters das Problem gerade angegangen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286