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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Seite - 208 -
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Heimkehr nach Österreich Vom Standpunkt der Logik aus war das Törichtste, was ich nach dem Niederbruch der deutschen und österreichischen Waffen tun konnte: nach Österreich zurückzukehren, nach diesem Österreich, das doch nur noch als ein ungewisser, grauer und lebloser Schatten der früheren kaiserlichen Monarchie auf der Karte Europas dämmerte. Die Tschechen, die Polen, die Italiener, die Slowenen hatten ihre Länder weggerissen; was übrig blieb, war ein verstümmelter Rumpf, aus allen Adern blutend. Von den sechs oder sieben Millionen, die man zwang, sich ›Deutsch-Österreicher‹ zu nennen, drängte die Hauptstadt allein schon zwei Millionen frierend und hungrig zusammen; die Fabriken, die das Land früher bereichert, lagen auf fremdem Gebiet, die Eisenbahnen waren zu kläglichen Stümpfen geworden, der Nationalbank hatte man ihr Gold genommen und dafür die gigantische Last der Kriegsanleihe aufgebürdet. Die Grenzen waren noch unbestimmt, da der Friedenskongreß kaum begonnen hatte, die Verpflichtungen nicht festgelegt, kein Mehl, kein Brot, keine Kohle, kein Petroleum vorhanden; eine Revolution schien unausweichlich oder sonst eine katastrophale Lösung. Nach aller irdischen Voraussicht konnte dieses von den Siegerstaaten künstlich geschaffene Land nicht unabhängig leben und – alle Parteien, die sozialistische, die klerikalen, die nationalen schrien es aus einem Munde – wollte gar nicht selbständig leben. Zum erstenmal meines Wissens im Lauf der Geschichte ergab sich der paradoxe Fall, daß man ein Land zu einer Selbständigkeit zwang, die es selber erbittert ablehnte. Österreich wünschte entweder mit den alten Nachbarstaaten wieder vereinigt zu werden oder mit dem stammesverwandten Deutschland, keinesfalls aber in dieser verstümmelten Form ein erniedrigtes Bettlerdasein zu führen. Die Nachbarstaaten hingegen wollten mit diesem Österreich nicht mehr in wirtschaftlichem Bündnis bleiben, teils weil sie es für zu arm hielten, teils aus Furcht vor einer Wiederkehr der Habsburger; den Anschluß an Deutschland verboten anderseits die Alliierten, um das besiegte Deutschland nicht zu stärken. So wurde dekretiert: Die Republik Deutsch-Österreich muß bestehen bleiben. Einem Lande, das nicht existieren wollte – Unikum in der Geschichte! – anbefohlen: »Du mußt vorhanden sein!« Was mich damals bewog, in der schlimmsten Zeit, die je über ein Land gekommen, freiwillig dorthin zurückzukehren, vermag ich selbst heute kaum mehr zu erklären. Aber wir Menschen der Vorkriegszeit waren trotz allem und allem in einem stärkeren Gefühl von Pflicht aufgewachsen; man glaubte, daß man mehr als je in einer solchen Stunde äußerster Not zu seiner Heimat, zu seiner Familie gehörte. Es schien mir irgendwie feig, dem Tragischen, das sich dort vorbereitete, bequem auszuweichen, und ich fühlte – gerade als 208
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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