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Die ersten Stunden des Krieges von 1914
Jener Sommer 1914 wäre auch ohne das Verhängnis, das er über die
europäische Erde brachte, uns unvergeßlich geblieben. Denn selten habe ich
einen erlebt, der üppiger, schöner, und fast möchte ich sagen, sommerlicher
gewesen. Seidenblau der Himmel durch Tage und Tage, weich und doch nicht
schwül die Luft, duftig und warm die Wiesen, dunkel und füllig die Wälder
mit ihrem jungen Grün; heute noch, wenn ich das Wort Sommer ausspreche,
muß ich unwillkürlich an jene strahlenden Julitage denken, die ich damals in
Baden bei Wien verbrachte. Ich hatte mich zurückgezogen, um in diesem
kleinen romantischen Städtchen, das Beethoven sich so gerne zum
Sommeraufenthalt wählte, diesen Monat ganz konzentriert der Arbeit zu
widmen und dann den Rest des Sommers bei Verhaeren, dem verehrten
Freunde, in seinem kleinen Landhaus in Belgien zu verbringen. In Baden ist
es nicht nötig, das kleine Städtchen zu verlassen, um der Landschaft sich zu
erfreuen. Der schöne, hügelige Wald dringt unmerklich zwischen die niederen
biedermeierischen Häuser, die die Einfachheit und Anmut der
Beethovenschen Zeit bewahrt haben. Man sitzt in Cafés und Restaurants
überall im Freien, kann sich je nach Belieben unter das heitere Volk der
Kurgäste mengen, die im Kurpark dort Korso abhalten oder sich auf den
einsamen Wegen verlieren.
Schon am Vorabend jenes 29. Juni, den das katholische Land Österreich als
›Peter und Paul‹ immer feiertäglich hielt, waren viele Gäste aus Wien
gekommen. In hellen Sommerkleidern, fröhlich und unbesorgt, wogte die
Menge im Kurpark vor der Musik. Der Tag war lind; wolkenlos stand der
Himmel über den breiten Kastanienbäumen, und es war ein rechter Tag des
Glücklichseins. Nun kamen für die Menschen, die Kinder bald die Ferien, und
sie nahmen mit diesem ersten sommerlichen Feiertag gleichsam schon den
ganzen Sommer voraus mit seiner seligen Luft, seinem satten Grün und
seinem Vergessen aller täglichen Sorgen. Ich saß damals weiter ab vom
Gedränge des Kurparks und las ein Buch – ich weiß heute noch, welches es
war: Mereschkowskijs ›Tolstoi und Dostojewski‹ – las es aufmerksam und
gespannt. Aber doch war der Wind zwischen den Bäumen, das Gezwitscher
der Vögel und die vom Kurpark herschwebende Musik gleichzeitig in
meinem Bewußtsein. Ich hörte deutlich die Melodien mit, ohne dadurch
gestört zu sein, denn unser Ohr ist ja so anpassungsfähig, daß ein andauerndes
Geräusch, eine donnernde Straße, ein rauschender Bach nach wenigen
Minuten sich völlig dem Bewußtsein eingepaßt und im Gegenteil nur ein
unerwartetes Stocken im Rhythmus uns aufhorchen läßt.
So hielt ich unwillkürlich im Lesen inne, als plötzlich mitten im Takt die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286