Seite - 145 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Glanz und Schatten über Europa
Nun hatte ich zehn Jahre des neuen Jahrhunderts gelebt, Indien, ein Stück von
Amerika und Afrika gesehen; mit einer neuen, wissenderen Freude begann
ich auf unser Europa zu blicken. Nie habe ich unsere alte Erde mehr geliebt
als in diesen letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, nie mehr auf Europas
Einigung gehofft, nie mehr an seine Zukunft geglaubt als in dieser Zeit, da
wir meinten, eine neue Morgenröte zu erblicken. Aber es war in Wahrheit
schon der Feuerschein des nahenden Weltbrands.
Es ist vielleicht schwer, der Generation von heute, die in Katastrophen,
Niederbrüchen und Krisen aufgewachsen ist, denen Krieg eine ständige
Möglichkeit und eine fast tägliche Erwartung gewesen, den Optimismus, das
Weltvertrauen zu schildern, die uns junge Menschen seit jener
Jahrhundertwende beseelten. Vierzig Jahre Frieden hatten den
wirtschaftlichen Organismus der Länder gekräftigt, die Technik den
Rhythmus des Lebens beschwingt, die wissenschaftlichen Entdeckungen den
Geist jener Generation stolz gemacht; ein Aufschwung begann, der in allen
Ländern unseres Europas fast gleichmäßig zu fühlen war. Die Städte wurden
schöner und volkreicher von Jahr zu Jahr, das Berlin von 1905 glich nicht
mehr jenem, das ich 1901 gekannt, aus der Residenzstadt war eine Weltstadt
geworden und war schon wieder großartig überholt von dem Berlin von 1910.
Wien, Mailand, Paris, London, Amsterdam – wann immer man wiederkam,
war man erstaunt und beglückt; breiter, prunkvoller wurden die Straßen,
machtvoller die öffentlichen Bauten, luxuriöser und geschmackvoller die
Geschäfte. Man spürte es an allen Dingen, wie der Reichtum wuchs und wie
er sich verbreitete; selbst wir Schriftsteller merkten es an den Auflagen, die
sich in dieser einen Spanne von zehn Jahren verdreifachten, verfünffachten,
verzehnfachten. Überall entstanden neue Theater, Bibliotheken, Museen;
Bequemlichkeiten, die wie Badezimmer und Telephon vordem das Privileg
enger Kreise gewesen, drangen ein in die kleinbürgerlichen Kreise, und von
unten stieg, seit die Arbeitszeit verkürzt war, das Proletariat empor, Anteil
wenigstens an den kleinen Freuden und Behaglichkeiten des Lebens zu
nehmen. Überall ging es vorwärts. Wer wagte, gewann. Wer ein Haus, ein
seltenes Buch, ein Bild kaufte, sah es im Werte steigen, je kühner, je
großzügiger ein Unternehmen angelegt wurde, um so sicherer lohnte es sich.
Eine wunderbare Unbesorgtheit war damit über die Welt gekommen, denn
was sollte diesen Aufstieg unterbrechen, was den Elan hemmen, der aus
seinem eigenen Schwung immer neue Kräfte zog? Nie war Europa stärker,
reicher, schöner, nie glaubte es inniger an eine noch bessere Zukunft; niemand
außer ein paar schon verhutzelten Greisen klagte wie vordem um die ›gute
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286