Seite - 224 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Wieder in der Welt
Drei Jahre, 1919, 1920, 1921, die drei schwersten Nachkriegsjahre
Österreichs, hatte ich nun eingegraben in Salzburg gelebt, eigentlich schon die
Hoffnung aufgebend, jemals wieder die Welt zu sehen. Der Zusammenbruch
nach dem Kriege, der Haß im Auslande gegen jeden Deutschen oder deutsch
Schreibenden, die Entwertung unserer Währung war so katastrophal, daß man
sich im voraus bereits damit abgefunden hatte, sein Leben lang festgebannt zu
bleiben an seine enge heimatliche Sphäre. Aber alles war besser gekommen.
Man aß sich wieder satt. Man saß unbehelligt an seinem Schreibtisch. Es war
nicht geplündert worden, es gab keine Revolution. Man lebte, man spürte
seine Kräfte. Sollte man nicht doch wieder die Lust seiner jungen Jahre
erproben und in die Ferne fahren?
An weite Reisen war noch nicht zu denken. Aber Italien lag nahe, nur acht
oder zehn Stunden weit. Sollte man es wagen? Als Österreicher galt man
drüben als der ›Erbfeind‹, obwohl man selbst nie so gefühlt. Sollte man sich
unfreundlich abweisen lassen, an den alten Freunden vorbeigehen müssen, um
sie nicht in eine peinliche Lage zu bringen? Nun, ich wagte es und fuhr eines
Mittags über die Grenze.
Abends kam ich in Verona an und ging in ein Hotel. Man reichte mir den
Meldezettel, ich trug mich ein; der Portier überlas das Blatt und staunte, als er
unter der Rubrik Nationalität das Wort ›Austriaco‹ las. »Lei è Austriaco?«
fragte er. Wird er mir jetzt die Tür weisen,dachte ich. Aber als ich bejahte,
jubelte er beinahe. »Ah, che piacere! Finalmente!« Das war der erste Gruß
und eine neuerliche Bestätigung des schon im Krieg empfundenen Gefühls,
daß die ganze Haßpropaganda und Verhetzung nur ein kurzes intellektuelles
Fieber erzeugt, im Grunde aber nie die wirklichen Massen Europas berührt
hatte. Eine Viertelstunde später kam dieser wackere Portier eigens noch in
mein Zimmer, um nachzusehen, ob für mich alles gut besorgt sei. Er lobte
begeistert mein Italienisch, und wir schieden mit herzlichem Händedruck.
Am nächsten Tage war ich in Mailand; ich sah wieder den Dom,
schlenderte durch die Galleria. Es war wohltuend, die geliebte vokalische
Musik des Italienischen zu hören, sich so sicher in allen Straßen
zurechtzufinden und die Fremdheit als etwas Vertrautes zu genießen. Im
Vorübergehen sah ich bei einem der großen Gebäude die Aufschrift ›Corriere
della Sera‹. Plötzlich fiel mir ein, daß hier in der Redaktion mein alter Freund
G. A. Borgese in führender Stellung sei, Borgese, in dessen Gesellschaft ich –
zusammen mit Graf Keyserling und Benno Geiger – in Berlin und Wien
manchen geistig beschwingten Abend verbracht. Einer der besten und
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286