Seite - 98 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Paris, die Stadt der ewigen Jugend
Für das erste Jahr der eroberten Freiheit hatte ich mir Paris als Geschenk
versprochen. Ich kannte diese unerschöpfliche Stadt nur flüchtig von zwei
früheren Besuchen und wußte, daß, wer als junger Mensch ein Jahr dort
gelebt, eine unvergleichliche Glückserinnerung durch sein ganzes Leben
mitträgt. Nirgends empfand man mit aufgeweckten Sinnen sein Jungsein so
identisch mit der Atmosphäre wie in dieser Stadt, die sich jedem gibt und die
keiner doch ganz ergründet.
Ich weiß es wohl, dieses selig beschwingte und beschwingende Paris
meiner Jugend ist nicht mehr; vielleicht wird ihm niemals mehr jene
wunderbare Unbefangenheit zurückgegeben werden, seit die härteste Hand
der Erde ihm das eherne Brandmal herrisch aufgedrückt. In der Stunde, da ich
diese Zeilen zu schreiben begann, wälzten sich gerade die deutschen Armeen,
die deutschen Tanks wie eine graue Termitenmasse heran, um das göttlich
Farbige, das selig Heitere, den Schmelz und die unverwelkbare Blüte dieses
harmonischen Gebildes an der Wurzel zu zerstören. Und nun ist es geschehen:
die Hakenkreuzfahne weht vom Eiffelturm, die schwarzen Sturmtruppen
paradieren herausfordernd über Napoleons Champs Elysées, und ich fühle
von weitem mit, wie in den Häusern die Herzen sich krampfen, wie
gedemütigt die einst so gutmütigen Bürger blicken, wenn durch ihre
traulichen Bistros und Cafés die Stulpenstiefel der Eroberer stapfen. Kaum je
ein eigenes Unglück hat mich so betroffen, so erschüttert, so verzweifelt
gemacht wiedie Erniedrigung dieser Stadt, die wie keine begnadet gewesen,
jeden, der ihr nahte, glücklich zu machen. Wird sie noch einmal wieder
Generationen zu geben vermögen, was sie uns gegeben: die weiseste Lehre,
das wundervollste Beispiel, gleichzeitig frei und schöpferisch zu sein, jedem
aufgetan und nur immer reicher werdend an dieser schönen Verschwendung?
Ich weiß, ich weiß, es ist nicht Paris allein, das heute leidet; auch das
andere Europa wird für Jahrzehnte nicht mehr sein, was es vor dem Ersten
Weltkrieg gewesen. Eine gewisse Düsternis hat sich seitdem auf dem
einstmals so hellen Horizont Europas nie mehr völlig verflüchtigt, Bitternis
und Mißtrauen von Land zu Land, vom Menschen zum Menschen ist wie ein
zehrendes Gift im verstümmelten Leib verblieben. Soviel Fortschritt im
Sozialen, im Technischen dies Vierteljahrhundert zwischen Weltkrieg und
Weltkrieg gebracht, so gibt es doch im einzelnen keine Nation in unserer
kleinen Welt des Abendlandes, die nicht unermeßlich viel ihrer einstigen
Lebenslust und Unbefangenheit verloren hätte. Man müßte tagelang
schildern, wie zutraulich, wie kindisch heiter früher selbst in bitterster Armut
die italienischen Menschen gewesen, wie sie lachten und sangen in ihren
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286