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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Wahlrecht nur Begüterten zugeteilt gewesen, die eine bestimmte Steuerleistung aufzuweisen hatten. Die von dieser Klasse gewählten Advokaten und Landwirte aber glaubten ehrlich und redlich, daß sie im Parlament die Sprecher und Vertreter des ›Volkes‹ wären. Sie waren sehr stolz darauf, gebildete Leute, womöglich akademisch gebildet zu sein, sie hielten auf Würde, Anstand und gute Diktion; in den Sitzungen des Parlaments ging es darum zu wie bei dem Diskussionsabend eines vornehmen Klubs. Dank ihrem liberalistischen Glauben an eine durch Toleranz und Vernunft unfehlbar fortschrittliche Welt meinten diese bürgerlichen Demokraten ehrlich, mit kleinen Konzessionen und allmählichen Verbesserungen das Wohl aller Untertanen auf die beste Weise zu fördern. Aber sie hatten vollkommen vergessen, daß sie nur die fünfzigtausend oder hunderttausend Wohlsituierten in den großen Städten repräsentierten und nicht die Hunderttausende und Millionen des ganzen Landes. Inzwischen hatte die Maschine ihr Werk getan und um die Industrie die früher verstreute Arbeiterschaft gesammelt; unter der Führung eines eminenten Mannes, Dr. Victor Adler, bildete sich in Österreich eine sozialistische Partei, um die Ansprüche des Proletariats durchzusetzen, das ein wirklich allgemeines und für jeden gleiches Wahlrecht forderte; kaum daß es gewährt oder vielmehr erzwungen war, wurde man gewahr, eine wie dünne, wenn auch hochwertige Schicht der Liberalismus gewesen. Mit ihm verschwand aus dem öffentlichen politischen Leben die Konzilianz, Interessen stießen jetzt hart gegen die Interessen, es begann der Kampf. Ich erinnere mich noch aus meiner frühesten Kindheit an den Tag, der die entscheidende Wendung im Aufstieg der sozialistischen Partei in Österreich brachte; die Arbeiter hatten, um zum erstenmal ihre Macht und Masse optisch zu zeigen, die Parole ausgegeben, den Ersten Mai als Feiertag des arbeitenden Volkes zu erklären, und beschlossen, in geschlossenem Zuge in den Prater zu ziehen, und zwar in die Hauptallee, wo sonst an diesem Tage nur die Wagen und Equipagen der Aristokratie und der reichen Bürgerschaft in der schönen, breiten Kastanienallee ihren Korso hielten. Entsetzen lähmte bei dieser Ankündigung die gute liberale Bürgerschaft. Sozialisten, das Wort hatte damals in Deutschland und Österreich etwas vom blutigen und terroristischen Beigeschmack wie vordem das Wort Jacobiner und später das Wort Bolschewisten; man konnte es im ersten Augenblick gar nicht für möglich halten, daß diese rote Rotte aus der Vorstadt ihren Marsch durchführen werde, ohne Häuser anzuzünden, Läden zu plündern und alle denkbaren Gewalttaten zu begehen. Eine Art Panik griff um sich. Die Polizei der ganzen Stadt und Umgebung wurde in der Praterstraße postiert, das Militär schußbereit in Reserve gestellt. Keine Equipage, kein Fiaker wagte sich in die Nähe des Praters, die Kaufleute ließen die eisernen Rollläden vor den Geschäften herunter, und ich erinnere mich, daß die Eltern uns Kindern streng verboten, 51
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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