Seite - 51 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Bild der Seite - 51 -
Text der Seite - 51 -
Wahlrecht nur Begüterten zugeteilt gewesen, die eine bestimmte
Steuerleistung aufzuweisen hatten. Die von dieser Klasse gewählten
Advokaten und Landwirte aber glaubten ehrlich und redlich, daß sie im
Parlament die Sprecher und Vertreter des ›Volkes‹ wären. Sie waren sehr stolz
darauf, gebildete Leute, womöglich akademisch gebildet zu sein, sie hielten
auf Würde, Anstand und gute Diktion; in den Sitzungen des Parlaments ging
es darum zu wie bei dem Diskussionsabend eines vornehmen Klubs. Dank
ihrem liberalistischen Glauben an eine durch Toleranz und Vernunft unfehlbar
fortschrittliche Welt meinten diese bürgerlichen Demokraten ehrlich, mit
kleinen Konzessionen und allmählichen Verbesserungen das Wohl aller
Untertanen auf die beste Weise zu fördern. Aber sie hatten vollkommen
vergessen, daß sie nur die fünfzigtausend oder hunderttausend Wohlsituierten
in den großen Städten repräsentierten und nicht die Hunderttausende und
Millionen des ganzen Landes. Inzwischen hatte die Maschine ihr Werk getan
und um die Industrie die früher verstreute Arbeiterschaft gesammelt; unter der
Führung eines eminenten Mannes, Dr. Victor Adler, bildete sich in Österreich
eine sozialistische Partei, um die Ansprüche des Proletariats durchzusetzen,
das ein wirklich allgemeines und für jeden gleiches Wahlrecht forderte; kaum
daß es gewährt oder vielmehr erzwungen war, wurde man gewahr, eine wie
dünne, wenn auch hochwertige Schicht der Liberalismus gewesen. Mit ihm
verschwand aus dem öffentlichen politischen Leben die Konzilianz,
Interessen stießen jetzt hart gegen die Interessen, es begann der Kampf.
Ich erinnere mich noch aus meiner frühesten Kindheit an den Tag, der die
entscheidende Wendung im Aufstieg der sozialistischen Partei in Österreich
brachte; die Arbeiter hatten, um zum erstenmal ihre Macht und Masse optisch
zu zeigen, die Parole ausgegeben, den Ersten Mai als Feiertag des arbeitenden
Volkes zu erklären, und beschlossen, in geschlossenem Zuge in den Prater zu
ziehen, und zwar in die Hauptallee, wo sonst an diesem Tage nur die Wagen
und Equipagen der Aristokratie und der reichen Bürgerschaft in der schönen,
breiten Kastanienallee ihren Korso hielten. Entsetzen lähmte bei dieser
Ankündigung die gute liberale Bürgerschaft. Sozialisten, das Wort hatte
damals in Deutschland und Österreich etwas vom blutigen und terroristischen
Beigeschmack wie vordem das Wort Jacobiner und später das Wort
Bolschewisten; man konnte es im ersten Augenblick gar nicht für möglich
halten, daß diese rote Rotte aus der Vorstadt ihren Marsch durchführen werde,
ohne Häuser anzuzünden, Läden zu plündern und alle denkbaren Gewalttaten
zu begehen. Eine Art Panik griff um sich. Die Polizei der ganzen Stadt und
Umgebung wurde in der Praterstraße postiert, das Militär schußbereit in
Reserve gestellt. Keine Equipage, kein Fiaker wagte sich in die Nähe des
Praters, die Kaufleute ließen die eisernen Rollläden vor den Geschäften
herunter, und ich erinnere mich, daß die Eltern uns Kindern streng verboten,
51
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286