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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Worte auf mich tiefen Eindruck machten, denn wir alle verstanden nicht, daß Herzl sich so lange nicht entschließen konnte, seine Stellung bei der ›Neuen Freien Presse‹ aufzugeben – wir meinten, um seiner Familie willen. Daß dem nicht so war und er sogar sein eigenes Privatvermögen der Sache geopfert hatte, erfuhr die Welt erst viel später. Und wie sehr er selbst unter diesem Zwiespalt gelitten hat, erwies mir nicht nur dieses Gespräch, sondern auch viele Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern bezeugen es. Ich sah ihn dann noch mehrmals, aber von allen Begegnungen ist mir nur eine als wichtige erinnerlich und unvergeßlich, vielleicht, weil sie die letzte war. Ich war im Ausland gewesen – nicht anders als brieflich mit Wien in Verbindung –, endlich traf ich ihn eines Tages im Stadtpark. Er kam offenbar aus der Redaktion, ging sehr langsam und ein wenig in sich gebeugt; es war nicht mehr der alte, schwingende Schritt. Ich grüßte höflich und wollte vorüber, aber er kam rasch emporgestrafft auf mich zu, bot mir die Hand: »Warum verstecken Sie sich? Sie haben das gar nicht nötig.« Daß ich so oft ins Ausland flüchtete, rechnete er mir hoch an. »Es ist unser einziger Weg«, sagte er. »Alles, was ich weiß, habe ich im Ausland gelernt. Nur dort gewöhnt man sich, in Distanzen zu denken. Ich bin überzeugt, ich hätte hier nie den Mut zu jener ersten Konzeption gehabt, man hätte sie mir zerstört, solange sie noch im Keimen und Wachsen war. Aber Gott sei Dank, als ich sie herbrachte, war schon alles fertig, und sie konnten nicht mehr tun, als das Beinaufheben.« Er sprach dann sehr bitter über Wien; hier habe er die stärksten Hemmungen gefunden, und kämen nicht von außen, von Osten besonders und nun auch von Amerika, neue Impulse, er wäre schon müde geworden. »Überhaupt«, sagte er, »mein Fehler war, daß ich zu spät begonnen habe. Viktor Adler, der war mit dreißig Jahren Führer der Sozialdemokratie, in seinen besten, ureigentlichen Kampfjahren, und von den Großen der Geschichte will ich gar nicht reden. Wenn Sie wüßten, wie ich leide im Gedanken an die verlorenen Jahre – daß ich nicht früher an meine Aufgabe herangekommen bin. Wäre meine Gesundheit so gut wie mein Wille, dann stünde alles noch gut, aber Jahre kauft man nicht mehr zurück.« Ich begleitete ihn noch lange des Weges bis zu seinem Hause. Dort blieb er stehen und gab mir die Hand und sagte: »Warum kommen Sie nie zu mir? Sie haben mich nie zu Hause besucht. Telephonieren Sie vorher an, ich mache mich schon frei.« Ich versprach es ihm, fest entschlossen, das Versprechen nicht zu halten, denn je mehr ich einen Menschen liebe, desto mehr ehre ich seine Zeit. Aber ich bin dennoch zu ihm gekommen, und schon wenige Monate später. Die Krankheit, die ihn damals zu beugen begann, hatte ihn plötzlich gefällt, und nur zum Friedhof mehr konnte ich ihn begleiten. Ein sonderbarer Tag war es, ein Tag im Juli, unvergeßlich jedem, der ihn miterlebte. Denn plötzlich kamen auf allen Bahnhöfen der Stadt, mit jedem Zug, bei Tag und Nacht, aus 85
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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