Seite - 85 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Worte auf mich tiefen Eindruck machten, denn wir alle verstanden nicht, daß
Herzl sich so lange nicht entschließen konnte, seine Stellung bei der ›Neuen
Freien Presse‹ aufzugeben – wir meinten, um seiner Familie willen. Daß dem
nicht so war und er sogar sein eigenes Privatvermögen der Sache geopfert
hatte, erfuhr die Welt erst viel später. Und wie sehr er selbst unter diesem
Zwiespalt gelitten hat, erwies mir nicht nur dieses Gespräch, sondern auch
viele Aufzeichnungen in seinen Tagebüchern bezeugen es.
Ich sah ihn dann noch mehrmals, aber von allen Begegnungen ist mir nur
eine als wichtige erinnerlich und unvergeßlich, vielleicht, weil sie die letzte
war. Ich war im Ausland gewesen – nicht anders als brieflich mit Wien in
Verbindung –, endlich traf ich ihn eines Tages im Stadtpark. Er kam offenbar
aus der Redaktion, ging sehr langsam und ein wenig in sich gebeugt; es war
nicht mehr der alte, schwingende Schritt. Ich grüßte höflich und wollte
vorüber, aber er kam rasch emporgestrafft auf mich zu, bot mir die Hand:
»Warum verstecken Sie sich? Sie haben das gar nicht nötig.« Daß ich so oft
ins Ausland flüchtete, rechnete er mir hoch an. »Es ist unser einziger Weg«,
sagte er. »Alles, was ich weiß, habe ich im Ausland gelernt. Nur dort gewöhnt
man sich, in Distanzen zu denken. Ich bin überzeugt, ich hätte hier nie den
Mut zu jener ersten Konzeption gehabt, man hätte sie mir zerstört, solange sie
noch im Keimen und Wachsen war. Aber Gott sei Dank, als ich sie
herbrachte, war schon alles fertig, und sie konnten nicht mehr tun, als das
Beinaufheben.« Er sprach dann sehr bitter über Wien; hier habe er die
stärksten Hemmungen gefunden, und kämen nicht von außen, von Osten
besonders und nun auch von Amerika, neue Impulse, er wäre schon müde
geworden. »Überhaupt«, sagte er, »mein Fehler war, daß ich zu spät begonnen
habe. Viktor Adler, der war mit dreißig Jahren Führer der Sozialdemokratie,
in seinen besten, ureigentlichen Kampfjahren, und von den Großen der
Geschichte will ich gar nicht reden. Wenn Sie wüßten, wie ich leide im
Gedanken an die verlorenen Jahre – daß ich nicht früher an meine Aufgabe
herangekommen bin. Wäre meine Gesundheit so gut wie mein Wille, dann
stünde alles noch gut, aber Jahre kauft man nicht mehr zurück.« Ich begleitete
ihn noch lange des Weges bis zu seinem Hause. Dort blieb er stehen und gab
mir die Hand und sagte: »Warum kommen Sie nie zu mir? Sie haben mich nie
zu Hause besucht. Telephonieren Sie vorher an, ich mache mich schon frei.«
Ich versprach es ihm, fest entschlossen, das Versprechen nicht zu halten, denn
je mehr ich einen Menschen liebe, desto mehr ehre ich seine Zeit.
Aber ich bin dennoch zu ihm gekommen, und schon wenige Monate später.
Die Krankheit, die ihn damals zu beugen begann, hatte ihn plötzlich gefällt,
und nur zum Friedhof mehr konnte ich ihn begleiten. Ein sonderbarer Tag war
es, ein Tag im Juli, unvergeßlich jedem, der ihn miterlebte. Denn plötzlich
kamen auf allen Bahnhöfen der Stadt, mit jedem Zug, bei Tag und Nacht, aus
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286