Page - 117 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 117 -
Text of the Page - 117 -
selbstherrlich die Justiz in seine Hände nimmt, ist in Frankreich dem
Geschädigten die freie Wahl anheimgestellt, Anklage zu erheben oder nicht
zu erheben. Persönlich scheint mir diese Art der Rechtsauffassung gerechter
als das sogenannte starre Recht. Denn sie gibt die Möglichkeit, einem andern
Menschen das Schlimme, das er zugefügt, zu vergeben, während zum
Beispiel, wenn in Deutschland eine Frau ihren Geliebten in einem
Eifersuchtsanfall mit dem Revolver verletzt, alles Flehen und Bitten des
Betroffenen sie nicht vor der Verurteilung schützen kann. Der Staat greift ein,
reißt die Frau, die der in der Erregung Angefallene vielleicht um dieser
Leidenschaft willen noch mehr liebt, gewaltsam von der Seite des Mannes
und wirft sie ins Gefängnis, während in Frankreich die beiden Arm in Arm
nach gewährter Verzeihung heimkehren und die Sache unter sich als
ausgetragen betrachten können.
Kaum hatte ich mein entschiedenes ›Nein‹ ausgesprochen, so ereignete sich
ein dreifacher Zwischenfall. Der hagere Mensch zwischen den beiden
Polizisten richtete sich plötzlich auf und sah mich mit einem
unbeschreiblichen Blick der Dankbarkeit an, den ich nie vergessen werde. Der
Unterpräfekt legte zufrieden die Feder hin; auch ihm war es sichtlich
angenehm, daß meine Weigerung, den Dieb zu verfolgen, ihm weitere
Schreibereien ersparte. Aber anders mein Hauswirt. Er bekam einen
puterroten Kopf und begann heftig auf mich einzuschreien, das dürfe ich nicht
tun, dieses Gesindel, ›cette vermine‹, müsse ausgetilgt werden. Ich hätte keine
Vorstellung, was diese Sorte für Schaden anrichte. Tag und Nacht müsse ein
anständiger Mensch auf der Hut sein vor diesen Schuften, und wenn man
einen laufen lasse, so bedeute das Ermutigung für hundert andere. Es war die
ganze Ehrlichkeit und Redlichkeit und zugleich Kleinlichkeit eines in seinem
Geschäft gestörten Kleinbürgers, die da explodierte; er forderte mich im
Hinblick auf die Scherereien, die er mit der Sache gehabt habe, geradezu grob
und drohend auf, meine Pardonierung zu revozieren. Aber ich blieb fest. Ich
hätte, sagte ich entschlossen, meinen Koffer wieder und somit keinerlei
Schaden zu beklagen, damit sei alles für mich erledigt. Ich hätte zeit meines
Lebens noch nie gegen einen anderen Menschen eine Klage eingebracht und
würde mit viel behaglicherem Gefühl heute mittags ein feistes Beefsteak
verzehren, wenn ich wüßte, daß nicht meinethalben jemand
anders unterdessen Gefängniskost essen müßte. Mein Wirt ripostierte in
immer größerer Erregung, und als der Beamte erklärte, nicht er, sondern ich
hätte zu entscheiden und durch meine Weigerung sei die Sache erledigt,
drehte er sich plötzlich scharf um, verließ wütend das Zimmer und schlug
knallend die Tür hinter sich zu. Der Unterpräfekt stand auf, lächelte dem
Verärgerten nach und reichte mir in stillem Einverständnis die Hand. Damit
war der amtliche Akt vollbracht, und ich griff schon nach meinem Koffer, um
117
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286