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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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selbstherrlich die Justiz in seine Hände nimmt, ist in Frankreich dem Geschädigten die freie Wahl anheimgestellt, Anklage zu erheben oder nicht zu erheben. Persönlich scheint mir diese Art der Rechtsauffassung gerechter als das sogenannte starre Recht. Denn sie gibt die Möglichkeit, einem andern Menschen das Schlimme, das er zugefügt, zu vergeben, während zum Beispiel, wenn in Deutschland eine Frau ihren Geliebten in einem Eifersuchtsanfall mit dem Revolver verletzt, alles Flehen und Bitten des Betroffenen sie nicht vor der Verurteilung schützen kann. Der Staat greift ein, reißt die Frau, die der in der Erregung Angefallene vielleicht um dieser Leidenschaft willen noch mehr liebt, gewaltsam von der Seite des Mannes und wirft sie ins Gefängnis, während in Frankreich die beiden Arm in Arm nach gewährter Verzeihung heimkehren und die Sache unter sich als ausgetragen betrachten können. Kaum hatte ich mein entschiedenes ›Nein‹ ausgesprochen, so ereignete sich ein dreifacher Zwischenfall. Der hagere Mensch zwischen den beiden Polizisten richtete sich plötzlich auf und sah mich mit einem unbeschreiblichen Blick der Dankbarkeit an, den ich nie vergessen werde. Der Unterpräfekt legte zufrieden die Feder hin; auch ihm war es sichtlich angenehm, daß meine Weigerung, den Dieb zu verfolgen, ihm weitere Schreibereien ersparte. Aber anders mein Hauswirt. Er bekam einen puterroten Kopf und begann heftig auf mich einzuschreien, das dürfe ich nicht tun, dieses Gesindel, ›cette vermine‹, müsse ausgetilgt werden. Ich hätte keine Vorstellung, was diese Sorte für Schaden anrichte. Tag und Nacht müsse ein anständiger Mensch auf der Hut sein vor diesen Schuften, und wenn man einen laufen lasse, so bedeute das Ermutigung für hundert andere. Es war die ganze Ehrlichkeit und Redlichkeit und zugleich Kleinlichkeit eines in seinem Geschäft gestörten Kleinbürgers, die da explodierte; er forderte mich im Hinblick auf die Scherereien, die er mit der Sache gehabt habe, geradezu grob und drohend auf, meine Pardonierung zu revozieren. Aber ich blieb fest. Ich hätte, sagte ich entschlossen, meinen Koffer wieder und somit keinerlei Schaden zu beklagen, damit sei alles für mich erledigt. Ich hätte zeit meines Lebens noch nie gegen einen anderen Menschen eine Klage eingebracht und würde mit viel behaglicherem Gefühl heute mittags ein feistes Beefsteak verzehren, wenn ich wüßte, daß nicht meinethalben jemand anders unterdessen Gefängniskost essen müßte. Mein Wirt ripostierte in immer größerer Erregung, und als der Beamte erklärte, nicht er, sondern ich hätte zu entscheiden und durch meine Weigerung sei die Sache erledigt, drehte er sich plötzlich scharf um, verließ wütend das Zimmer und schlug knallend die Tür hinter sich zu. Der Unterpräfekt stand auf, lächelte dem Verärgerten nach und reichte mir in stillem Einverständnis die Hand. Damit war der amtliche Akt vollbracht, und ich griff schon nach meinem Koffer, um 117
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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