Page - 121 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Priesterliches gab, das Schwelen der dicken Wachskerzen, die, glaube ich,
einen leichtgewürzten Duft aushauchten; dadurch wurde der literarische
Genuß – und das bot anderseits für mich einen neuartigen Reiz – eher eine
Zelebrierung von Gedichten als eine spontane Vorlesung. Und ich erinnerte
mich unwillkürlich im Vergleich, wie Verhaeren seine Gedichte vorlas: in
Hemdsärmeln, um mit den nervigen Armen den Rhythmus besser taktieren zu
können, ohne Pomp und Inszenierung, oder wie Rilke aus einem Buche
gelegentlich ein paar Verse sprach, einfach, klar in dem stillen Dienst am
Wort. Es war die erste ›inszenierte‹ Dichtervorlesung, der ich je beigewohnt,
und wenn ich mich trotz aller Liebe für sein Werk etwas mißtrauisch gegen
diese Kulthandlung wehrte, so hat Yeats dennoch damals einen dankbaren
Gast gehabt.
Aber die eigentliche Dichterentdeckung, die mir in London geschah, galt
keinem Lebenden, sondern einem derzeit noch recht vergessenen Künstler:
William Blake, diesem einsamen und problematischen Genie, das mich mit
seiner Mischung von Unbeholfenheit und sublimer Vollendung noch heute
fasziniert. Ein Freund hatte mir geraten, mir im printroom des Britischen
Museums, den damals Lawrence Binyon verwaltete, die farbig illustrierten
Bücher ›Europa‹, ›America‹, ›Das Buch Hiob‹ zeigen zu lassen, die heute
Rarissima des Antiquariats geworden sind, und ich war wie verzaubert. Hier
sah ich zum erstenmal eine jener magischen Naturen, die, ohne klar ihren
Weg zu wissen, von Visionen wie mit Engelsflügeln durch alle Wildnisse der
Phantasie getragen werden; Tage und Wochen versuchte ich tiefer in das
Labyrinth dieser naiven und doch zugleich dämonischen Seele einzudringen
und einige Gedichte von ihm deutsch wiederzugeben. Ein Blatt von seiner
Hand zu besitzen, wurde beinahe zur Gier, schien aber zunächst eine fast nur
traumhafte Möglichkeit. Da erzählte mir eines Tages mein Freund Archibald
G. B. Russel, schon damals der beste Kenner Blakes, in der Ausstellung, die
er veranstalte, sei eines der ›visionary portraits‹ zu verkaufen, seiner (und
meiner) Meinung nach die schönste Bleistiftzeichnung des Meisters, der
›King John‹. »Sie werden ihrer nie müde werden«, versprach er mir, und er
hat recht behalten. Von meinen Büchern und Bildern hat dieses eine Blatt
mich mehr als dreißig Jahre begleitet, und wie oft hat der magisch-erleuchtete
Blick dieses irren Königs von der Wand auf mich geblickt; von allem
Verlorenen und Fernen meiner Habe ist es diese Zeichnung, welche ich auf
meiner Wanderschaft am meisten misse. Der Genius Englands, den zu
erkennen in Straßen und Städten ich mich vergebens bemüht, plötzlich war er
mir offenbar geworden in Blakes wahrhaft astraler Gestalt. Und ich hatte zu
vieler Weltliebe wieder eine neue gewonnen.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286