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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Priesterliches gab, das Schwelen der dicken Wachskerzen, die, glaube ich, einen leichtgewürzten Duft aushauchten; dadurch wurde der literarische Genuß – und das bot anderseits für mich einen neuartigen Reiz – eher eine Zelebrierung von Gedichten als eine spontane Vorlesung. Und ich erinnerte mich unwillkürlich im Vergleich, wie Verhaeren seine Gedichte vorlas: in Hemdsärmeln, um mit den nervigen Armen den Rhythmus besser taktieren zu können, ohne Pomp und Inszenierung, oder wie Rilke aus einem Buche gelegentlich ein paar Verse sprach, einfach, klar in dem stillen Dienst am Wort. Es war die erste ›inszenierte‹ Dichtervorlesung, der ich je beigewohnt, und wenn ich mich trotz aller Liebe für sein Werk etwas mißtrauisch gegen diese Kulthandlung wehrte, so hat Yeats dennoch damals einen dankbaren Gast gehabt. Aber die eigentliche Dichterentdeckung, die mir in London geschah, galt keinem Lebenden, sondern einem derzeit noch recht vergessenen Künstler: William Blake, diesem einsamen und problematischen Genie, das mich mit seiner Mischung von Unbeholfenheit und sublimer Vollendung noch heute fasziniert. Ein Freund hatte mir geraten, mir im printroom des Britischen Museums, den damals Lawrence Binyon verwaltete, die farbig illustrierten Bücher ›Europa‹, ›America‹, ›Das Buch Hiob‹ zeigen zu lassen, die heute Rarissima des Antiquariats geworden sind, und ich war wie verzaubert. Hier sah ich zum erstenmal eine jener magischen Naturen, die, ohne klar ihren Weg zu wissen, von Visionen wie mit Engelsflügeln durch alle Wildnisse der Phantasie getragen werden; Tage und Wochen versuchte ich tiefer in das Labyrinth dieser naiven und doch zugleich dämonischen Seele einzudringen und einige Gedichte von ihm deutsch wiederzugeben. Ein Blatt von seiner Hand zu besitzen, wurde beinahe zur Gier, schien aber zunächst eine fast nur traumhafte Möglichkeit. Da erzählte mir eines Tages mein Freund Archibald G. B. Russel, schon damals der beste Kenner Blakes, in der Ausstellung, die er veranstalte, sei eines der ›visionary portraits‹ zu verkaufen, seiner (und meiner) Meinung nach die schönste Bleistiftzeichnung des Meisters, der ›King John‹. »Sie werden ihrer nie müde werden«, versprach er mir, und er hat recht behalten. Von meinen Büchern und Bildern hat dieses eine Blatt mich mehr als dreißig Jahre begleitet, und wie oft hat der magisch-erleuchtete Blick dieses irren Königs von der Wand auf mich geblickt; von allem Verlorenen und Fernen meiner Habe ist es diese Zeichnung, welche ich auf meiner Wanderschaft am meisten misse. Der Genius Englands, den zu erkennen in Straßen und Städten ich mich vergebens bemüht, plötzlich war er mir offenbar geworden in Blakes wahrhaft astraler Gestalt. Und ich hatte zu vieler Weltliebe wieder eine neue gewonnen. 121
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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