Page - 128 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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einen gewissen persönlichen Zug meiner inneren Einstellung an, die
unweigerlich nie die Partei der sogenannten ›Helden‹ nimmt, sondern Tragik
immer nur im Besiegten sieht. In meinen Novellen ist es immer der dem
Schicksal Unterliegende, der mich anzieht, in den Biographien die Gestalt
eines, der nicht im realen Raume des Erfolgs, sondern einzig im moralischen
Sinne recht behält, Erasmus und nicht Luther, Maria Stuart und nicht
Elisabeth, Castellio und nicht Calvin; so nahm ich auch damals nicht Achill
als die heroische Figur, sondern den unscheinbarsten seiner Gegenspieler,
Thersites – den leidenden Menschen statt jenes, der durch seine Kraft und
Zielsicherheit den andern Leiden erschafft. Das beendete Drama einem
Schauspieler zu zeigen, selbst einem befreundeten, unterließ ich, immerhin
schon weltklug genug, um zu wissen, daß Dramen in Blankversen und in
griechischen Kostümen, selbst wenn von Sophokles oder Shakespeare, nicht
geeignet sind, auf der realen Bühne ›Kassa zu machen‹. Nur der Form halber
ließ ich ein paar Exemplare an die großen Theater schicken und vergaß dann
ganz diesen Auftrag.
Wie groß war darum meine Überraschung, nach etwa drei Monaten einen
Brief zu erhalten, dessen Umschlag den Aufdruck ›Königliches
Schauspielhaus Berlin‹ zeigte. Was kann das preußische Staatstheater von mir
wollen, dachte ich. Zu meiner Überraschung teilte mir der Direktor Ludwig
Barnay, vormals einer der größten deutschen Schauspieler, mit, das Stück
habe ihm stärksten Eindruck gemacht und sei ihm deshalb besonders
willkommen, weil im Achill endlich die langgesuchte Rolle für Adalbert
Matkowsky gefunden sei; er bitte mich also, die Erstaufführung dem
Königlichen Schauspielhaus in Berlin zu übertragen.
Ich erschrak beinahe vor Freude. Die deutsche Nation hatte damals zwei
große Schauspieler, Adalbert Matkowsky und Josef Kainz; der erste, ein
Norddeutscher, unerreicht durch die elementare Wucht seines Wesens, seine
hinreißende Leidenschaft – der andere, unser Wiener Josef Kainz, beglückend
durch seine geistige Grazie, seine nie mehr erreichte Sprechkunst, die
Meisterschaft des schwingenden wie des metallischen Worts. Nun sollte
Matkowsky meine Gestalt verlebendigen, meine Verse sprechen, das
angesehenste Theater der Hauptstadt des Deutschen Reiches meinem Drama
Patendienste leisten – eine dramatische Karriere unvergleichlicher Art schien
sich mir, der sie nicht gesucht hatte, zu eröffnen.
Aber sich nie einer Aufführung erwartungsvoll zu freuen, ehe sich nicht
wirklich der Vorhang hebt, habe ich seitdem gelernt. Zwar begannen
tatsächlich die Proben, eine nach der andern, und Freunde versicherten mir,
daß Matkowsky nie großartiger, nie männlicher gewesen als auf diesen
Proben, da er meine Verse sprach. Schon hatte ich den Schlafwagenplatz nach
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286