Page - 138 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Horizonts vom Literarischen ins Zeitgeschichtliche danke ich Rathenau auch
die erste Anregung, über Europa hinauszugehen. »Sie können England nicht
verstehen, solange Sie nur die Insel kennen«, sagte er mir. »Und nicht unseren
Kontinent, solange Sie nicht mindestens einmal über ihn hinausgekommen
sind. Sie sind ein freier Mensch, nützen Sie die Freiheit! Literatur ist ein
wunderbarer Beruf, weil in ihm Eile überflüssig ist. Ein Jahr früher, ein Jahr
später macht nichts aus bei einem wirklichen Buch. Warum fahren Sie nicht
einmal nach Indien und nach Amerika?« Dieses zufällige Wort schlug in mich
ein, und ich beschloß, sofort seinem Rat zu folgen.
Indien wirkte auf mich unheimlicher und bedrückender, als ich gedacht
hatte. Ich war erschrocken über das Elend der ausgemergelten Gestalten, den
unfreudigen Ernst in den schwarzen Blicken, die oft grausame Monotonie der
Landschaft, und vor allem über die starre Schichtung der Klassen und Rassen,
von der ich schon auf dem Schiff eine Probe bekommen hatte. Zwei reizende
Mädchen, schwarzäugig und schlank, wohlgebildet und manierlich,
bescheiden und elegant, reisten auf unserem Boot. Gleich am ersten Tag fiel
mir auf, daß sie sich fernhielten oder durch eine mir unsichtbare Schranke
ferngehalten wurden. Sie erschienen nicht zum Tanz, sie mengten sich nicht
ins Gespräch, sondern saßen abseits, englische oder französische Bücher
lesend. Erst am zweiten oder dritten Tage entdeckte ich, daß nicht sie es
waren, welche die englische Gesellschaft mieden, sondern die anderen, die
sich von den ›Halfcasts‹ zurückzogen, obwohl diese reizenden Mädchen die
Töchter eines parsischen Großkaufmanns und einer Französin waren. Im
Pensionat in Lausanne, in der finishing-school in England waren sie zwei
oder drei Jahre völlig gleichberechtigt gewesen; auf dem Schiff nach Indien
aber begann sofort diese kühle, unsichtbare und darum nicht minder grausame
Form der gesellschaftlichen Ächtung. Zum erstenmal sah ich die Pest des
Rassenreinheitswahns, der unserer Welt verhängnisvoller geworden ist als die
wirkliche Pest in früheren Jahrhunderten.
Durch diese erste Begegnung war mir der Blick von Anfang an geschärft.
Mit einiger Beschämung genoß ich die – durch unsere eigene Schuld längst
entschwundene – Ehrfurcht vor dem Europäer als eine Art weißen Gotts, der,
wenn er eine touristische Expedition machte wie jene auf den Adamspik von
Ceylon, unweigerlich von zwölf bis vierzehn Dienern begleitet wurde; alles
andere wäre unter seiner ›Würde‹ gewesen. Ich wurde das unheimliche
Gefühl nicht los, daß die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte
Verwandlungen und Umstellungen dieses absurden Verhältnisses bringen
müßten, von dem wir in unserem behaglichen und sich sicher wähnenden
Europa gar nichts zu ahnen wagten. Dank dieser Beobachtungen sah ich in
Indien nicht, wie etwa Pierre Loti, in Rosenrot als etwas ›Romantisches‹,
sondern als eine Mahnung; und es waren nicht die herrlichen Tempel, die
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286