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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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Horizonts vom Literarischen ins Zeitgeschichtliche danke ich Rathenau auch die erste Anregung, über Europa hinauszugehen. »Sie können England nicht verstehen, solange Sie nur die Insel kennen«, sagte er mir. »Und nicht unseren Kontinent, solange Sie nicht mindestens einmal über ihn hinausgekommen sind. Sie sind ein freier Mensch, nützen Sie die Freiheit! Literatur ist ein wunderbarer Beruf, weil in ihm Eile überflüssig ist. Ein Jahr früher, ein Jahr später macht nichts aus bei einem wirklichen Buch. Warum fahren Sie nicht einmal nach Indien und nach Amerika?« Dieses zufällige Wort schlug in mich ein, und ich beschloß, sofort seinem Rat zu folgen. Indien wirkte auf mich unheimlicher und bedrückender, als ich gedacht hatte. Ich war erschrocken über das Elend der ausgemergelten Gestalten, den unfreudigen Ernst in den schwarzen Blicken, die oft grausame Monotonie der Landschaft, und vor allem über die starre Schichtung der Klassen und Rassen, von der ich schon auf dem Schiff eine Probe bekommen hatte. Zwei reizende Mädchen, schwarzäugig und schlank, wohlgebildet und manierlich, bescheiden und elegant, reisten auf unserem Boot. Gleich am ersten Tag fiel mir auf, daß sie sich fernhielten oder durch eine mir unsichtbare Schranke ferngehalten wurden. Sie erschienen nicht zum Tanz, sie mengten sich nicht ins Gespräch, sondern saßen abseits, englische oder französische Bücher lesend. Erst am zweiten oder dritten Tage entdeckte ich, daß nicht sie es waren, welche die englische Gesellschaft mieden, sondern die anderen, die sich von den ›Halfcasts‹ zurückzogen, obwohl diese reizenden Mädchen die Töchter eines parsischen Großkaufmanns und einer Französin waren. Im Pensionat in Lausanne, in der finishing-school in England waren sie zwei oder drei Jahre völlig gleichberechtigt gewesen; auf dem Schiff nach Indien aber begann sofort diese kühle, unsichtbare und darum nicht minder grausame Form der gesellschaftlichen Ächtung. Zum erstenmal sah ich die Pest des Rassenreinheitswahns, der unserer Welt verhängnisvoller geworden ist als die wirkliche Pest in früheren Jahrhunderten. Durch diese erste Begegnung war mir der Blick von Anfang an geschärft. Mit einiger Beschämung genoß ich die – durch unsere eigene Schuld längst entschwundene – Ehrfurcht vor dem Europäer als eine Art weißen Gotts, der, wenn er eine touristische Expedition machte wie jene auf den Adamspik von Ceylon, unweigerlich von zwölf bis vierzehn Dienern begleitet wurde; alles andere wäre unter seiner ›Würde‹ gewesen. Ich wurde das unheimliche Gefühl nicht los, daß die kommenden Jahrzehnte und Jahrhunderte Verwandlungen und Umstellungen dieses absurden Verhältnisses bringen müßten, von dem wir in unserem behaglichen und sich sicher wähnenden Europa gar nichts zu ahnen wagten. Dank dieser Beobachtungen sah ich in Indien nicht, wie etwa Pierre Loti, in Rosenrot als etwas ›Romantisches‹, sondern als eine Mahnung; und es waren nicht die herrlichen Tempel, die 138
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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