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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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auszumarkten, sondern einzig, um eine ziemlich ungewisse Vorstellung des neuen Kontinents mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Diese meine Vorstellung war – ich schäme mich nicht, es zu sagen – eine recht romantische. Amerika war für mich Walt Whitman, das Land des neuen Rhythmus, der kommenden Weltbrüderschaft; noch einmal las ich, ehe ich hinüberfuhr, die wild und kataraktisch hinströmenden Langzeilen des großen ›Camerado‹ und betrat also Manhattan mit offenem, brüderlich breitem Gefühl statt mit dem üblichen Hochmut des Europäers. Ich erinnere mich noch, daß es mein erstes war, im Hotel den Portier nach dem Grabe Walt Whitmans zu fragen, das ich besuchen wollte; mit diesem Verlangen versetzte ich den armen Italiener freilich in arge Verlegenheit. Er hatte diesen Namen noch nie gehört. Der erste Eindruck war mächtig, obwohl New York noch nicht jene berauschende Nachtschönheit hatte wie heute. Es fehlten noch die brausenden Kaskaden von Licht am Times-Square und der traumhafte Sternenhimmel der Stadt, der nachts mit Milliarden künstlicher Sterne die echten und wirklichen des Himmels anglüht. Das Stadtbild sowie der Verkehr entbehrten der verwegenen Großzügigkeit von heute, denn die neue Architektur versuchte sich noch sehr ungewiß in einzelnen Hochbauten; auch der erstaunliche Aufschwung des Geschmacks in Schaufenstern und Dekorationen war erst in schüchternem Beginn. Aber von Brooklyn-Bridge, der immer von Bewegung leise schwingenden, auf den Hafen hinabzublicken und in den steinernen Schluchten der Avenuen herumzuwandern, war Entdeckung und Erregung genug, die freilich nach zwei oder drei Tagen einem anderen, heftigeren Gefühl wich: dem Gefühl äußerster Einsamkeit. Ich hatte nichts zu tun in New York, und nirgendwo war damals ein unbeschäftigter Mensch mehr fehl am Ort als dort. Noch gab es nicht die Kinos, wo man eine Stunde sich ablenken konnte, noch nicht die kleinen bequemen Cafeterias, nicht so viele Kunsthandlungen, Bibliotheken und Museen wie heute, alles stand im Kulturellen noch weit hinter unserem Europa zurück. Nachdem ich in zwei oder drei Tagen die Museen und wesentlichen Sehenswürdigkeiten getreulich erledigt, trieb ich wie ein ruderloses Boot in den eisigen, windigen Straßen hin und her. Schließlich wurde dieses Gefühl der Sinnlosigkeit meines Straßenwanderns so stark, daß ich es nur überwinden konnte, indem ich es durch einen Kunstgriff mir anziehender machte. Ich erfand mir nämlich ein Spiel mit mir selbst. Ich suggerierte mir, da ich hier völlig einsam herumirrte, ich wäre einer der unzähligen Auswanderer, die nicht wußten, was mit sich anzufangen, und hätte nur sieben Dollar in der Tasche. Tu also freiwillig das, sagte ich mir, was diese tun müssen. Stell dir vor, du seiest gezwungen, spätestens nach drei Tagen dir dein Brot zu verdienen. Sieh dich um, wie man hier anfängt als Fremder ohne Verbindungen und Freunde sofort einen 142
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Title
Die Welt von Gestern
Subtitle
Erinnerungen eines Europäers
Author
Stefan Zweig
Date
1942
Language
German
License
PD
Size
21.0 x 29.7 cm
Pages
320
Keywords
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Category
Biographien

Table of contents

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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