Seite - 142 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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auszumarkten, sondern einzig, um eine ziemlich ungewisse Vorstellung des
neuen Kontinents mit der Wirklichkeit zu konfrontieren.
Diese meine Vorstellung war – ich schäme mich nicht, es zu sagen – eine
recht romantische. Amerika war für mich Walt Whitman, das Land des neuen
Rhythmus, der kommenden Weltbrüderschaft; noch einmal las ich, ehe ich
hinüberfuhr, die wild und kataraktisch hinströmenden Langzeilen des großen
›Camerado‹ und betrat also Manhattan mit offenem, brüderlich breitem
Gefühl statt mit dem üblichen Hochmut des Europäers. Ich erinnere mich
noch, daß es mein erstes war, im Hotel den Portier nach dem Grabe Walt
Whitmans zu fragen, das ich besuchen wollte; mit diesem Verlangen versetzte
ich den armen Italiener freilich in arge Verlegenheit. Er hatte diesen Namen
noch nie gehört.
Der erste Eindruck war mächtig, obwohl New York noch nicht jene
berauschende Nachtschönheit hatte wie heute. Es fehlten noch die brausenden
Kaskaden von Licht am Times-Square und der traumhafte Sternenhimmel der
Stadt, der nachts mit Milliarden künstlicher Sterne die echten und wirklichen
des Himmels anglüht. Das Stadtbild sowie der Verkehr entbehrten der
verwegenen Großzügigkeit von heute, denn die neue Architektur versuchte
sich noch sehr ungewiß in einzelnen Hochbauten; auch der erstaunliche
Aufschwung des Geschmacks in Schaufenstern und Dekorationen war erst in
schüchternem Beginn. Aber von Brooklyn-Bridge, der immer von Bewegung
leise schwingenden, auf den Hafen hinabzublicken und in den steinernen
Schluchten der Avenuen herumzuwandern, war Entdeckung und Erregung
genug, die freilich nach zwei oder drei Tagen einem anderen, heftigeren
Gefühl wich: dem Gefühl äußerster Einsamkeit. Ich hatte nichts zu tun in
New York, und nirgendwo war damals ein unbeschäftigter Mensch mehr fehl
am Ort als dort. Noch gab es nicht die Kinos, wo man eine Stunde sich
ablenken konnte, noch nicht die kleinen bequemen Cafeterias, nicht so viele
Kunsthandlungen, Bibliotheken und Museen wie heute, alles stand im
Kulturellen noch weit hinter unserem Europa zurück. Nachdem ich in zwei
oder drei Tagen die Museen und wesentlichen Sehenswürdigkeiten getreulich
erledigt, trieb ich wie ein ruderloses Boot in den eisigen, windigen Straßen
hin und her. Schließlich wurde dieses Gefühl der Sinnlosigkeit meines
Straßenwanderns so stark, daß ich es nur überwinden konnte, indem ich es
durch einen Kunstgriff mir anziehender machte. Ich erfand mir nämlich ein
Spiel mit mir selbst. Ich suggerierte mir, da ich hier völlig einsam herumirrte,
ich wäre einer der unzähligen Auswanderer, die nicht wußten, was mit sich
anzufangen, und hätte nur sieben Dollar in der Tasche. Tu also freiwillig das,
sagte ich mir, was diese tun müssen. Stell dir vor, du seiest gezwungen,
spätestens nach drei Tagen dir dein Brot zu verdienen. Sieh dich um, wie man
hier anfängt als Fremder ohne Verbindungen und Freunde sofort einen
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Titel
- Die Welt von Gestern
- Untertitel
- Erinnerungen eines Europäers
- Autor
- Stefan Zweig
- Datum
- 1942
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- PD
- Abmessungen
- 21.0 x 29.7 cm
- Seiten
- 320
- Schlagwörter
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Kategorie
- Biographien
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286