Page - 159 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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viel anders, als man gelegentlich an den Tod denkt – an etwas Mögliches,
aber wahrscheinlich doch Fernes. Und Paris war zu schön in jenen Tagen und
wir selbst zu jung und zu glücklich. Ich erinnere mich noch an die
bezaubernde Farce, die Jules Romains ersann, um zur Verhöhnung des ›prince
de poètes‹ einen ›prince des penseurs‹ zu krönen, einen braven, etwas
einfältigen Mann, der sich von den Studenten feierlich vor die Rodinstatue
vor dem Pantheon führen ließ. Und abends tobten wir bei dem parodistischen
Bankett übermütig wie Schuljungen. Die Bäume blühten, die Luft ging süß
und leicht; wer wollte angesichts so vieler Entzückungen an etwas so
Unvorstellbares denken? Die Freunde waren mehr Freunde als je und neue
dazu gewonnen im fremden – im ›feindlichen‹ – Land, die Stadt war sorgloser
als je zuvor, und man liebte mit seiner eigenen Sorglosigkeit die ihre. Ich
begleitete Verhaeren in diesen letzten Tagen nach Rouen, wo er eine
Vorlesung halten sollte. Wir standen nachts vor der Kathedrale, deren Spitzen
magisch im Mondschein erglänzten – gehörten solche linde Wunder noch
einem ›Vaterland‹, gehörten sie nicht uns allen? Auf dem Bahnhof in Rouen,
an derselben Stelle, wo zwei Jahre später eine der von ihm besungenen
Maschinen ihn zerreißen sollte, nahmen wir Abschied. Er umarmte mich.
»Am ersten August bei mir in Caillou qui bique!« Ich versprach es, denn ich
besuchte ihn doch jedes Jahr auf diesem seinem Landsitz, um Hand in Hand
mit ihm seine neuen Verse zu übertragen. Warum nicht auch in diesem Jahr?
Unbesorgt nahm ich Abschied von den andern Freunden, Abschied von Paris,
lässigen, unsentimentalen Abschied, wie wenn man sein eigenes Haus für ein
paar Wochen verläßt. Mein Plan für die nächsten Monate war klar. In
Österreich jetzt, irgendwo auf dem Land, zurückgezogen die Arbeit an
Dostojewskij (die fünf Jahre später erst erscheinen konnte) vorwärtsbringen
und damit das Buch ›Drei Meister‹ vollenden, das je eine der großen Nationen
in ihrem größten Romancier zeigen sollte. Dann zu Verhaeren und im Winter
vielleicht die langgeplante Reise nach Rußland, um dort eine Gruppe für
unsere geistige Verständigung zu formen. Alles lag eben und hell vor meinem
Blick in diesem meinem zweiunddreißigsten Jahr; schön und sinnvoll wie
eine köstliche Frucht bot sich in diesem strahlenden Sommer die Welt. Und
ich liebte sie um ihrer Gegenwart und ihrer noch größeren Zukunft willen.
Da, am 28. Juni 1914, fiel jener Schuß in Sarajewo, der die Welt der
Sicherheit und der schöpferischen Vernunft, in der wir erzogen, erwachsen
und beheimatet waren, in einer einzigen Sekunde wie ein hohles tönernes
Gefäß in tausend Stücke schlug.
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286