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Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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viel anders, als man gelegentlich an den Tod denkt – an etwas Mögliches, aber wahrscheinlich doch Fernes. Und Paris war zu schön in jenen Tagen und wir selbst zu jung und zu glücklich. Ich erinnere mich noch an die bezaubernde Farce, die Jules Romains ersann, um zur Verhöhnung des ›prince de poètes‹ einen ›prince des penseurs‹ zu krönen, einen braven, etwas einfältigen Mann, der sich von den Studenten feierlich vor die Rodinstatue vor dem Pantheon führen ließ. Und abends tobten wir bei dem parodistischen Bankett übermütig wie Schuljungen. Die Bäume blühten, die Luft ging süß und leicht; wer wollte angesichts so vieler Entzückungen an etwas so Unvorstellbares denken? Die Freunde waren mehr Freunde als je und neue dazu gewonnen im fremden – im ›feindlichen‹ – Land, die Stadt war sorgloser als je zuvor, und man liebte mit seiner eigenen Sorglosigkeit die ihre. Ich begleitete Verhaeren in diesen letzten Tagen nach Rouen, wo er eine Vorlesung halten sollte. Wir standen nachts vor der Kathedrale, deren Spitzen magisch im Mondschein erglänzten – gehörten solche linde Wunder noch einem ›Vaterland‹, gehörten sie nicht uns allen? Auf dem Bahnhof in Rouen, an derselben Stelle, wo zwei Jahre später eine der von ihm besungenen Maschinen ihn zerreißen sollte, nahmen wir Abschied. Er umarmte mich. »Am ersten August bei mir in Caillou qui bique!« Ich versprach es, denn ich besuchte ihn doch jedes Jahr auf diesem seinem Landsitz, um Hand in Hand mit ihm seine neuen Verse zu übertragen. Warum nicht auch in diesem Jahr? Unbesorgt nahm ich Abschied von den andern Freunden, Abschied von Paris, lässigen, unsentimentalen Abschied, wie wenn man sein eigenes Haus für ein paar Wochen verläßt. Mein Plan für die nächsten Monate war klar. In Österreich jetzt, irgendwo auf dem Land, zurückgezogen die Arbeit an Dostojewskij (die fünf Jahre später erst erscheinen konnte) vorwärtsbringen und damit das Buch ›Drei Meister‹ vollenden, das je eine der großen Nationen in ihrem größten Romancier zeigen sollte. Dann zu Verhaeren und im Winter vielleicht die langgeplante Reise nach Rußland, um dort eine Gruppe für unsere geistige Verständigung zu formen. Alles lag eben und hell vor meinem Blick in diesem meinem zweiunddreißigsten Jahr; schön und sinnvoll wie eine köstliche Frucht bot sich in diesem strahlenden Sommer die Welt. Und ich liebte sie um ihrer Gegenwart und ihrer noch größeren Zukunft willen. Da, am 28. Juni 1914, fiel jener Schuß in Sarajewo, der die Welt der Sicherheit und der schöpferischen Vernunft, in der wir erzogen, erwachsen und beheimatet waren, in einer einzigen Sekunde wie ein hohles tönernes Gefäß in tausend Stücke schlug. 159
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Die Welt von Gestern Erinnerungen eines Europäers
Titel
Die Welt von Gestern
Untertitel
Erinnerungen eines Europäers
Autor
Stefan Zweig
Datum
1942
Sprache
deutsch
Lizenz
PD
Abmessungen
21.0 x 29.7 cm
Seiten
320
Schlagwörter
Biographie, Litertaur, Schriftsteller
Kategorie
Biographien

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 5
  2. Die Welt der Sicherheit 10
  3. Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
  4. Eros Matutinus 56
  5. Universitas vitae 74
  6. Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
  7. Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
  8. Über Europa hinaus 135
  9. Glanz und Schatten über Europa 145
  10. Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
  11. Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
  12. Im Herzen Europas 189
  13. Heimkehr nach Österreich 208
  14. Wieder in der Welt 224
  15. Sonnenuntergang 240
  16. Incipit Hitler 263
  17. Die Agonie des Friedens 286
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