Page - 180 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 180 -
Text of the Page - 180 -
französischen Superpatrioten schrien, als dieser Aufsatz erschien, auf, als
hätten sie versehentlich ein glühendes Eisen in die Hand bekommen. Über
Nacht war Rolland von seinen ältesten Freunden boykottiert, die Buchhändler
wagten den ›Jean Christophe‹ nicht mehr in die Auslagen zu stellen, die
Militärbehörden, die den Haß brauchten zur Stimulierung der Soldaten,
erwogen bereits Maßnahmen gegen ihn, eine Broschüre nach der andern
erschien mit der Argumentation: ›Ce qu’on donne pendant la guerre à
l’humanité est volé à la patrie.‹ Aber wie immer bewies der Aufschrei, daß
der Schlag vollwichtig getroffen hatte. Die Diskussion über die Haltung des
geistigen Menschen im Kriege war nicht mehr aufzuhalten, das Problem für
jeden einzelnen unvermeidlich gestellt.
Nichts ist mir bei diesen meinen Erinnerungen bedauerlicher, als daß mir
die Briefe Rollands aus jenen Jahren nicht zugänglich sind; der Gedanke, sie
könnten in dieser neuen Sintflut vernichtet werden oder verlorengehen, lastet
wie eine Verantwortung auf mir. Denn so sehr ich sein Werk liebe, halte ich es
für möglich, daß man später sie dem Schönsten und Humansten beizählen
wird, was sein großes Herz und sein leidenschaftlicher Verstand jemals
entäußert haben. Aus der maßlosen Erschütterung einer mitleidenden Seele,
aus der ganzen Kraft machtloser Erbitterung geschrieben an einen Freund
jenseits der Grenze, also einen offiziellen ›Feind‹, stellen sie die vielleicht
eindringlichsten moralischen Dokumente einer Zeit dar, wo Verstehen eine
ungeheure Kraftleistung und Treue zur eigenen Gesinnung allein schon einen
grandiosen Mut erforderte. Bald kristallisierte sich aus dieser unserer
freundschaftlichen Korrespondenz ein positiver Vorschlag: Rolland regte an,
man solle versuchen, die wichtigsten geistigen Persönlichkeiten aller
Nationen zu einer gemeinsamen Konferenz in der Schweiz einzuladen, um zu
einer einheitlichen und würdigeren Haltung zu gelangen und vielleicht sogar
einen solidarischen Appell im Sinne der Verständigung an die Welt zu richten.
Er wollte von der Schweiz aus übernehmen, die französischen und
ausländischen Geistigen zur Teilnahme einzuladen, ich sollte von Österreich
unsere und die deutschen Dichter und Gelehrten sondieren, soweit sie sich
noch nicht selbst durch eine öffentliche Haßpropaganda kompromittiert
hätten. Ich machte mich sofort ans Werk. Der wichtigste, der repräsentativste
deutsche Dichter war damals Gerhart Hauptmann. Ich wollte, um ihm Zusage
oder Absage leichter zu machen, mich nicht direkt an ihn wenden. So schrieb
ich unserem gemeinsamen Freunde Walther Rathenau, er möge Hauptmann
vertraulich anfragen. Rathenau lehnte ab – ob mit oder ohne Verständigung
Hauptmanns, habe ich nie erfahren –, es sei jetzt nicht an der Zeit, einen
geistigen Frieden einzuhalten. Damit war eigentlich der Versuch gescheitert,
denn Thomas Mann stand damals im anderen Lager und hatte eben in einem
180
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286