Page - 192 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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von einer fast unheimlichen Intelligenz, war bestimmt, nach dem
Zusammenbruch der österreichischen Monarchie die Führung des kleinen
Österreich zu übernehmen und hat bei dieser Gelegenheit sein politisches
Genie hervorragend bewährt. Beide waren sie entschiedene Pazifisten,
strenggläubige Katholiken, leidenschaftliche Altösterreicher und als solche in
innerster Gegnerschaft gegen den deutschen, den preußischen, den
protestantischen Militarismus, den sie als unvereinbar mit den traditionellen
Ideen Österreichs und seiner katholischen Mission empfanden. Meine
Dichtung ›Jeremias‹ hatte in diesen religiös-pazifistischen Kreisen stärkste
Sympathie gefunden, und Hofrat Lammasch – Seipel war gerade verreist –
bat mich in Salzburg zu sich. Der vornehme alte Gelehrte sprach sehr herzlich
zu mir über mein Buch; es erfülle unsere österreichische Idee, konziliatorisch
zu wirken, und er hoffe dringend, daß es über das Literarische hinaus seine
Wirkung tun werde. Und zu meinem Erstaunen vertraute er mir, den er
vordem nie gesehen, mit jener Offenheit, die seine innere Tapferkeit bewies,
das Geheimnis an, daß wir uns in Österreich vor einer entscheidenden Wende
befänden. Seit der militärischen Ausschaltung Rußlands bestehe weder für
Deutschland, sofern es sich seiner aggressiven Tendenzen entäußern wolle,
noch für Österreich mehr ein wirkliches Hindernis für den Frieden; dieser
Augenblick dürfe nicht versäumt werden. Wenn der alldeutsche Klüngel in
Deutschland sich weiter gegen Verhandlungen wehre, müsse Österreich die
Führung übernehmen und selbständig handeln. Er deutete mir an, daß der
junge Kaiser Karl diesen Tendenzen seine Hilfe versprochen habe; man
würde vielleicht schon in nächster Zeit die Auswirkung seiner persönlichen
Politik sehen. Alles hänge jetzt davon ab, ob Österreich genug Energie
aufbringe, statt des ›Sieg-Friedens‹, den die deutsche Militärpartei
gleichgültig gegen weitere Opfer fordere, einen Verständigungsfrieden
durchzusetzen. Im Notfall müsse aber das Äußerste geschehen: daß
Österreich sich vom Bündnis rechtzeitig loslöse, ehe es von den deutschen
Militaristen in eine Katastrophe gerissen werde. »Niemand kann uns einer
Untreue beschuldigen«, sagte er fest und entschieden. »Wir haben mehr als
eine Million Tote. Wir haben genug geopfert und getan! Jetzt kein
Menschenleben, kein einziges mehr für die deutsche Weltherrschaft!«
Mir stand der Atem in der Kehle still. All das hatten wir uns im stillen oft
gedacht, nur hatte niemand den Mut gehabt, am hellen Tage auszusprechen:
›Sagen wir uns von den Deutschen und ihrer Annexionspolitik rechtzeitig
los‹, denn das hätte als ›Verrat‹ am Waffenbruder gegolten. Und hier sagte
dies ein Mann, der, wie ich vordem schon wußte, in Österreich das Vertrauen
des Kaisers und im Auslande dank seiner Tätigkeit im Haag das höchste
Ansehen genoß, mir, einem beinahe Fremden mit solcher Ruhe und
Entschiedenheit, daß ich sofort spürte, eine österreichisch-separatistische
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286