Page - 196 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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der Ankunft in Genf mit vollem Namen unten beim Hotelportier,
ich wünschte Herrn Romain Rolland zu sprechen, gerade weil es besser war
für das deutsche oder französische Nachrichtenbüro, wenn sie melden
konnten, wer ich war und wen ich besuchte; für uns bedeutete es doch nur
eine Selbstverständlichkeit, daß zwei alte Freunde sich nicht deshalb plötzlich
auszuweichen hatten, weil sie zufällig zwei verschiedenen Nationen
angehörten, die sich zufällig miteinander im Kriege befanden. Wir fühlten uns
nicht verpflichtet, eine Absurdität mitzumachen, weil sich die Welt absurd
benahm.
Und nun stand ich endlich in seinem Zimmer – fast schien es mir dasselbe
wie in Paris. Da stand wie damals mit Büchern verstellt der Tisch und der
Sessel. Der Schreibtisch flutete über von Zeitschriften, Zuschriften und
Papieren, es war dieselbe schlichte und doch der ganzen Welt verbundene
Mönchsklause der Arbeit, die sich aus seinem Wesen überall um ihn baute,
wo immer er sich befand. Einen Augenblick fehlte mir das grüßende Wort,
wir reichten uns nur die Hand, – die erste französische Hand, die ich seit
Jahren wieder fassen durfte; Rolland war der erste Franzose, den ich seit drei
Jahren sprach, – aber wir waren einander in diesen drei Jahren
nähergekommen als je. In der fremden Sprache sprach ich vertrauter und
offener als mit irgend jemandem meiner Heimat. Ich war mir voll bewußt, daß
mit diesem Freunde der wichtigste Mann dieser unserer Weltstunde mir
gegenüberstand, daß es das moralische Gewissen Europas war, das zu mir
sprach. Nun erst konnte ich übersehen, was alles er tat und getan in seinem
großartigen Dienst um die Verständigung. Nacht und Tag arbeitend, immer
allein, ohne Hilfe, ohne Sekretär verfolgte er alle Manifestationen in allen
Ländern, unterhielt eine Korrespondenz mit zahllosen Menschen, die ihn um
Rat in Gewissensangelegenheiten baten, schrieb jeden Tag viele Blätter in
sein Tagebuch; wie keiner von allen in dieser Zeit hatte er das Gefühl für die
Verantwortung, historische Zeit mitzuleben und empfand es als Bedürfnis,
Rechenschaft einer späteren zu hinterlassen. (Wo sind sie heute, jene
unzähligen handschriftlichen Bände der Tagebücher, die einmal den
vollkommenen Aufschluß geben werden über alle moralischen und geistigen
Konflikte jenes ersten Weltkrieges?) Gleichzeitig publizierte er seine
Aufsätze, deren jeder damals internationale Erregung schuf, arbeitete an
seinem Roman ›Clerambault‹ –, es war der Einsatz, der restlose, pausenlose,
aufopfernde Einsatz seiner ganzen Existenz für die ungeheure
Verantwortlichkeit, die er auf sich genommen, innerhalb dieses
Wahnsinnsanfalls der Menschheit vorbildlich und menschlich gerecht in jeder
Einzelheit zu handeln. Es ließ keinen Brief unbeantwortet, keine Broschüre zu
den Zeitproblemen ungelesen; dieser schwache, zarte, gerade damals in seiner
Gesundheit sehr bedrohte Mann, der nur leise zu sprechen imstande war und
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286