Page - 204 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
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die Kraft, die ihn innerlich vehement und produktiv machte. Sein
Ressentiment gegen Dublin, gegen England, gegen gewisse Personen hatte in
ihm die Form dynamischer Energie angenommen und ist tatsächlich erst im
dichterischen Werke frei geworden. Aber er schien diese seine eigene Härte
zu lieben; nie habe ich ihn lachen oder eigentlich heiter gesehen. Immer
wirkte er wie eine in sich zusammengeballte dunkle Kraft, und wenn ich ihn
auf der Straße sah, die schmalen Lippen scharf aneinander gezogen und
immer raschen Schritts, als ob er auf etwas Bestimmtes zuginge, so spürte ich
das Abwehrende, das innerlich Isolierte seines Wesens noch stärker als in
unseren Gesprächen. Und ich war später keineswegs erstaunt, daß gerade er
das einsamste, mit allem unverbundenste, dies gleichsam meteorisch in unsere
Zeit niedergestürzte Werk geschrieben.
Ein anderer dieser amphibisch zwischen zwei Nationen Lebenden war
Feruccio Busoni, der Geburt und Erziehung nach Italiener, der Lebenswahl
nach Deutscher. Von Jugend an hatte ich keinen unter den Virtuosen
dermaßen geliebt wie ihn. Wenn er am Klavier konzertierte, bekamen seine
Augen einen wunderbar träumerischen Glanz. Unten schufen mühelos die
Hände Musik, einzige Vollendung, aber oben horchte, leicht zurückgelehnt,
das schöne durchseelte Haupt und lauschte die Musik, die er schuf, in sich
hinein. Eine Art Verklärung schien ihn dann immer zu überkommen. Wie oft
hatte ich in den Konzertsälen wie verzaubert auf dies durchleuchtete Antlitz
gesehen, während die Töne weich aufwühlend und doch silbern klar mir bis
ins Blut eindrangen. Nun sah ich ihn wieder, und sein Haar war grau und
seine Augen umschattet von Trauer. »Wohin gehöre ich?« fragte er mich
einmal. »Wenn ich nachts träume und aufwache, weiß ich, daß ich im Traum
italienisch gesprochen. Und wenn ich dann schreibe, denke ich in deutschen
Worten.« Seine Schüler waren zerstreut in aller Welt – »einer schießt
vielleicht jetzt auf den andern« –, und an das eigentliche Werk, seine Oper
›Doktor Faust‹, wagte er sich noch nicht, weil er sich verstört fühlte. Er
schrieb einen kleinen, leichten musikalischen Einakter, um sich zu befreien,
aber die Wolke wich nicht von seinem Haupt während des Krieges. Selten
hörte ich mehr sein herrlich vehementes, sein aretinisches Lachen, das ich an
ihm vordem so sehr geliebt. Und einmal traf ich ihn spätnachts in der Halle
des Bahnhofrestaurants, er hatte allein zwei Flaschen Wein getrunken. Als ich
vorbeiging, rief er mich an. »Betäuben!« sagte er, auf die Flaschen deutend.
»Nicht trinken! Aber manchmal muß man sich betäuben, sonst erträgt man es
nicht. Die Musik kann es nicht immer, und die Arbeit kommt nur in guten
Stunden zu Gast.«
Am schwersten aber war die zwiespältige Situation für die Elsässer und
unter ihnen wieder am allerschlimmsten für diejenigen, die wie René
Schickele mit dem Herzen zu Frankreich hielten und in deutscher Sprache
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Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286