Page - 205 - in Die Welt von Gestern - Erinnerungen eines Europäers
Image of the Page - 205 -
Text of the Page - 205 -
schrieben. Um ihr Land ging ja eigentlich der Krieg, und die Sense schnitt
ihnen mitten durchs Herz. Man wollte sie nach rechts ziehen und nach links,
Bekenntnis zu Deutschland oder zu Frankreich von ihnen erzwingen, aber sie
verabscheuten dies ›Entweder-Oder‹, das ihnen unmöglich war. Sie wollten,
wie wir alle, Deutschland und Frankreich als Brüder, Verständigung statt
Befeindung, und darum litten sie um beide und für beide.
Und rundherum noch die ratlose Schar der Halbverbundenen, der
Gemischten, englische Frauen, die deutsche Offiziere geheiratet, französische
Mütter österreichischer Diplomaten, Familien, wo der eine Sohn hüben diente
und der andere drüben, wo die Eltern da und dort auf Briefe warteten, das
Wenige hier konfisziert, die Position dort verloren war; alle diese
Zerspaltenen hatten sich in die Schweiz gerettet, um der Verdächtigung zu
entgehen, die sie in der alten und in der neuen Heimat gleicherweise
verfolgte. In Furcht, die einen zu kompromittieren und die andern, vermieden
sie, in jedweder Sprache zu sprechen und schlichen wie Schatten herum,
zerstörte, zerbrochene Existenzen. Je europäischer ein Mensch in Europa
gelebt, um so härter wurde er von der Faust gezüchtigt, die Europa zerschlug.
Inzwischen war die Aufführung des ›Jeremias‹ herangerückt. Sie wurde ein
schöner Erfolg, und daß die ›Frankfurter Zeitung‹ denunzierend nach
Deutschland berichtete, es hätten der amerikanische Gesandte und einige
prominente alliierte Persönlichkeiten ihr beigewohnt, beunruhigte mich nicht
sehr. Wir spürten, daß der Krieg, nun in seinem dritten Jahr, innerlich immer
schwächer wurde und Widerstand gegen seine ausschließlich von Ludendorff
erzwungene Fortführung nicht mehr so gefährlich war wie in der ersten
Sündenzeit seiner Glorie. Der Herbst 1918 mußte die endgültige
Entscheidung herbeiführen. Aber ich wollte diese Zeit des Wartens nicht
länger in Zürich verbringen. Denn ich hatte allmählich wachere und
wachsamere Augen bekommen. Im ersten Enthusiasmus meiner Ankunft
hatte ich vermeint, unter all diesen Pazifisten und Antimilitaristen wirkliche
Gesinnungsgenossen zu finden, redlich entschlossene Kämpfer für eine
europäische Verständigung. Bald wurde ich gewahr, daß unter denen, die sich
als Flüchtlinge aufspielten und die sich als Märtyrer heroischer Überzeugung
gebärdeten, einige dunkle Gestalten sich eingeschmuggelt, die im Dienst des
deutschen Nachrichtenbüros standen und bezahlt waren, jeden auszuhorchen
und zu überwachen. Die ruhige, solide Schweiz erwies sich, wie jeder aus
eigener Erfahrung bald feststellen konnte, unterhöhlt von der Maulwurfsarbeit
geheimer Agenten aus beiden Lagern. Das Stubenmädchen, das den
Papierkorb ausräumte, die Telephonistin, der Kellner, der bedenklich nahe
und langsam servierte, standen im Dienst einer feindlichen Macht, oft sogar
205
Die Welt von Gestern
Erinnerungen eines Europäers
- Title
- Die Welt von Gestern
- Subtitle
- Erinnerungen eines Europäers
- Author
- Stefan Zweig
- Date
- 1942
- Language
- German
- License
- PD
- Size
- 21.0 x 29.7 cm
- Pages
- 320
- Keywords
- Biographie, Litertaur, Schriftsteller
- Category
- Biographien
Table of contents
- Vorwort 5
- Die Welt der Sicherheit 10
- Die Schule im vorigen Jahrhundert 29
- Eros Matutinus 56
- Universitas vitae 74
- Paris, die Stadt der ewigen Jugend 98
- Umwege auf dem Wege zu mir selbst 122
- Über Europa hinaus 135
- Glanz und Schatten über Europa 145
- Die ersten Stunden des Krieges von 1914 160
- Der Kampf um die geistige Brüderschaft 177
- Im Herzen Europas 189
- Heimkehr nach Österreich 208
- Wieder in der Welt 224
- Sonnenuntergang 240
- Incipit Hitler 263
- Die Agonie des Friedens 286